PROLOG: Newark-on-Trent, England, 29. Januar 2007

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Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: ‚Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber.

Friedrich Nietzsche, 1844 – 1900





Sie waren schon lange fort, aber der schwache Geruch nach Malven und Schwefel weilte noch immer über der Ruine in der starren Winterluft, als wollte selbst das Gerippe der niedergebrannten Mauern ein ehrendes Andenken an sie bewahren.

Es schien eines dieser Naturgesetze zu sein, das Vanguards allein durch ihren Existenzanspruch neu schrieben: Sie waren nicht in der Lage, etwas anderes zurückzulassen als verkohlte Ruinen, eiskalte Asche und den nachklingenden Geruch ihrer überwältigenden Macht.

Die junge Frau roch am Ärmel ihres roten Mantels. Vielleicht war sie es, die das verhasste Aroma an diese Stätte zurückgetragen hatte; der penetrante Geruch schien ihrer Kleidung anzuhaften, ihren Haaren, ihrer Haut. Sie hatte ihn in der Nase, wann immer sie die Augen schloss. Er zerstörte ihr jegliche Hoffnung darauf, eines Tages ein Leben zu führen, das nicht unwiderruflich von ihnen gekapert und beansprucht worden war.

Kein Wunder, dass ich sie überall rieche, dachte sie angewidert. Ihr Blut hat sich mit meinem vermengt.

Sie stieg über einen unebenen, grasbewachsenen Hügel im Boden, der wohl einmal der Türstock gewesen sein musste. Rechts und links davon brach der nackte Stein aus dem Boden wie ein eiternder Weisheitszahn, der allen Widrigkeiten der gefrorenen Erde trotzte.

»Ich hoffe, es macht euch nichts aus, wenn ich mich selbst reinlasse«, sagte sie und erschrak beim lauten Klang ihrer eigenen Stimme über der windstillen Ruine. »Möchte mich nur ein wenig umschauen.«

Sie kam sich selbst unbeschreiblich albern vor, wie sie mit bröckelnden Steinen und halb erfrorenem Gras sprach, doch ihre Worte in der klirrenden Luft halfen ihr, sich selbst zu verorten, der Bedeutung ihrer Unternehmung eine Berechtigung einzuräumen.

Seit sie denken konnte, hatte sie Ruinen größerer Herren durchforstet, mit verkohlten Stöcken die Asche zerwühlt und nach Kleinod gefahndet, den sie in ihre Rüstung einlassen konnte. Das eklektische Gebilde ihres Panzers, dieser behelfsmäßige Brustharnisch, war mit ausrangierten Gefälligkeiten gesäumt; den Brotkrumen, die vom Tisch ihrer Gebieter abgefallen waren, die ihr niemals erlaubt hatten, sie ihre Eltern zu nennen.

Die schwer fassbaren Vanguards hingegen hatten durch die Zeiten hinweg mehr als nur verschwenderisch gelebt; Genussucht und gönnerhafte Großzügigkeit waren allzeit gern gesehene Gäste an ihrer Tafel gewesen – und selbst, wenn gesamte Dörfer in Flammen zu stehen pflegten, wenn sie schließlich klammheimlich in der Nacht verschwanden und weiterzogen, blieb immer etwas zurück; etwas Handfesteres als der Geruch nach Malvenblüten und Schwefel.

Die junge Frau durchschritt die Länge der alten Eingangshalle und in ihrer Vorstellung erhoben sich die zerbröckelten Mauern zu neuer Größe und schlossen sich über ihrem Kopf zu einem Gewölbe zusammen.

Das hier war einst die Heimat der Vanguards gewesen und wie jede ihrer Wohnstätten war sie zu Asche und Staub zerborsten, als reine, weiße Seelen beständig korrumpierten.

Der Fluch der Vanguards. Der Fluch ihrer Macht.

Sie dachte an das Emblem, das über dem schmiedeeisernen Tor ihrer derzeitigen Residenz jenseits des Atlantiks hing – lediglich ein weiteres Prunkschloss, das eines Tages zweifelsohne einem der ihren zum Opfer fallen würde. Das Wahrzeichen war eine Schlange, die sich selbst in den Schwanz biss und das illustrierte, das sie selbst als ursprünglichste, grundlegendste Wahrheit akzeptiert hatte.

In der Umlaufbahn der Vanguards existierte Unendlichkeit. Ewige Zyklen, Wiederkünfte, düster ausgesprochene Prophezeiungen und das Versprechen auf Teilhabe.

Nun, vielleicht nicht für sie.

Aber sie war bereit, das zu tun, was nötig war, um sich ein Stückchen ihrer Geschichte zu eigen zu machen – eine Scherbe aus ihrem Himmelszelt abzubrechen und als krönenden Abschluss in ihrer Rüstung einzuschmelzen.

Als sie die Augen öffnete, bemerkte sie, dass sie nicht mehr allein war. Die Ruine lag arglos und zusammengefallen vor ihr und selbst der Geruch schien sich verflüchtigt zu haben.

Stattdessen stand auf einer der niedrigen Mauern ein junges Mädchen, kaum älter als zehn. Es starrte unverwandt in ihre Richtung und gerade, als die junge Frau glaubte, es würde ohne ein weiteres Wort abtauchen und über die mondbeschienenen Hügel davonrennen, sagte es: »Wenn du den Kopf in den Nacken legst, kannst du die Städte sehen.«

Die junge Frau leistete seinen Worten Folge; was blieb ihr auch anderes übrig – doch alles was sie sah, waren diese verdammten Sterne.

Wir irren des NachtsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt