Sie warteten in stummem Unbehagen darauf, dass der angekündigte Wagen in der Einfahrt zu hören war. Inzwischen hatte Ira ihre Namen gelernt: Der unrasierte, mittelalte Trunkenbold im fleckigen Morgenmantel hieß Nicholas und der hagere Lockenkopf mit den sturmgrauen, expressiven Augen, der ungefähr in ihrem Alter zu sein schien, war Atticus.
Sie waren vom Ort des Geschehens geflohen, nicht zuletzt, weil das Bruchgestein in der Halle einen aufdringlichen Feinstaub abgab und die Kühle der Nacht unnachgiebig durch die toten Mauern einsickerte. Stattdessen harrten sie in einem stickigen Anbau aus – eine Art Wintergarten, dessen Fenster nach außen geöffnet waren und einen sanften Durchzug erlaubten.
Keiner sprach. Nicholas lehnte am Fenster und ließ gedankenverloren die dunkelgelbe Flüssigkeit in seinem Glas umher kreisen, während Atticus untätig im Schneidersitz auf dem Sofa saß, das am weitesten von Nicholas' Position entfernt war, wie nur irgendwie möglich.
Ira schritt die Länge des Wintergartens unentwegt auf und ab und warf dabei alle paar Sekunden einen Blick über die im Dämmerlicht versinkenden Hügel, die die Schotterstraße zum Anwesen säumten.
»Kann ich was fragen?«, durchbrach sie irgendwann die Stille.
Atticus hob den Blick und zuckte gleichmütig mit den Schultern. Er trug ein weißes T-Shirt, das an den Ärmeln sichtbar zerschlissen war und Ira fragte sich, wohin die Vanguards ihren unermesslichen Reichtum investierten, wenn nicht in präsentablere Kleidung.
»Worauf warten wir genau?«
Atticus und Nicholas vermieden es sich anzusehen. Es schien eine unausgesprochene Abmachung zwischen ihnen zu bestehen, allem Weltlichen, das außerhalb dieses abgeschotteten Hauses vor sich ging, keine Beachtung und damit Daseinsberechtigung zu schenken.
Ira hatte niemals einen zeitloseren Ort gesehen. Atticus hätte in seiner Gesamtheit mühelos den Achtzigern entwachsen sein können mit seinem unmodisch langen Haar, dem ausgebeulten Shirt und knielangen Khakis. Nicholas wirkte fast noch älter, noch bewahrter, versteinerter.
Sie sah keinen Fernseher in diesem eigenartigen Anbau, kein Handy oder Radio: Das einzige Endgerät, das zu einer medialen Wiedergabe fähig wäre, war ein eingestaubter Plattenspieler, der auf einem wackeligen Beistelltisch halb von einer Geranie verwachsen wurde. Sie wagte die Vermutung, dass er nicht funktionierte.
»Wir warten auf jemanden, der uns hilft, dich zu verstehen«, sagte Atticus irgendwann widerwillig, als Ira schon geglaubt hatte, keine Antwort mehr zu erhalten.
»Aus eurer Familie?«
Er warf einen Blick in Nicholas' Richtung, der das Glas an seine Lippen setzte und so tat, als wäre er allein im Raum. Die exzentrische Schrulligkeit war nicht mehr zu überbieten.
Der Brief, den Ira in ihrer Tasche über den Atlantik transportiert hatte, lag geöffnet auf dem Couchtisch, vor dem Atticus saß. Der jüngere Vanguard hatte sich das Schreiben mehrmals durchgelesen; die Zeilen, die Ira inzwischen mitsprechen konnte.
Ira Knight, begann der Brief. Ira konnte die oberste Zeile selbst über Kopf erkennen. Würden Sie mir glauben, wenn ich sagte, dass Sie nicht alleine sind?
»Meine Cousine. Galatea«, durchbrach Atticus die Stille.
»Ist sie... so wie wir?« Ira räusperte sich verlegen. Es fiel ihr nach wie vor schwer, die absonderliche Tatsache konkret zu benennen.
Zu ihrer Überraschung schüttelte Atticus den Kopf. »Nein. Keineswegs. Das macht dich ja so... speziell.«
Sie verfielen wieder in Schweigen. Weder Atticus noch sein Onkel schienen Männer großer Worte zu sein. Sie verblieben selbstzufrieden in ihrer Stille und es schien fast, als seien sie es gewohnt, auf etwas zu warten, das nicht in ihrer Hand lag.
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Wir irren des Nachts
Fantasía❝Wann immer etwas fürchterlich schiefläuft in dieser Welt, lässt sich der Ursprung dieses Übels allzeit auf einen Vanguard zurückführen, der gerade seinen Kampf gegen das Böse verloren hat.❞ - Inoffizielles Motto der Familie Vanguard ❥ Außenstehende...