KAPITEL 18: New Haven, Connecticut, 26. April 2019

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»Und?«, fragte Ira, während sie sich vor dem Spiegel drehte. »Was sagst du? Zu übertrieben? Zu elegant? Zu neureich? Zu stillos? Ich kann deine Reaktion so schlecht antizipieren. Aber ihre Ehrlichkeit trifft mich trotzdem jedes Mal aufs Neue.«

Galatea rutschte auf dem samtbezogenen Hocker in der privaten Umkleide umher, die, ganz im Stil der hohen Mode, so schlecht erleuchtet war, dass man seinen Kauf erst im Tageslicht das erste Mal erkannte und bemerken musste, dass man sich aus Versehen an einen schreienden Grünton gebunden hatte.

Ira trug eine weiße Bluse mit einem schiefergrauem Bleistiftrock, den Galatea ihr ausgesucht hatte. Ihre Füße steckten in schwarzen Pumps mit hohen Absätzen, die Ira noch ein wenig größer wirken ließen, als sie wirklich war. Ihr Haar hatte sie zu einem niedrig angesetzten Pferdeschwanz zusammengebunden, aus dem sich vorne ein paar Strähnen gelöst hatten.

»Du siehst großartig aus«, sagte Galatea schließlich, während sie dumpf feststellte, dass ihre neue Freundin beneidenswert schön war. »Das ist genau dein Stil. Elegant, aber charakterstark. Jetzt noch eine Statementkette dazu und du könntest als Mitglied des Boards durchgehen.«

Ira lachte verlegen und grub ihre Finger in den Ärmel ihrer Bluse. »Meinst du wirklich?«

»Glaub mir, ich habe Erfahrung darin«, sagte Galatea. »Meine Tante legt großen Wert auf ihr Äußeres, und sie hat einen ganzen Trupp an Stilberatern, die für sie die derzeitigen Trends und Strömungen am Modemarkt verfolgen und daraus jedes Quartal ihren Kleiderschrank neuzusammenstellen.«

Ira blies Luft aus ihren Wangen, während sie sich selbst zweifelnd im Spiegel musterte. »Ich glaube, ich hatte noch nie so etwas Schickes an.«

Galatea spürte ein eigenartiges Ziehen in ihrem Bauch – Wehmut, wie sie als gefühlsinstruierte Berufsempathin sofort erkannte. Ein wenig so, als musste sie gerade das erste Mal feststellen, dass der Brillant, den sie im Staub gefunden hatte, durch ihre sorgfältige Reinigung und Politur nun auch für die Augen aller anderen so gleißend leuchtete, wie für sie.

»Es steht dir wirklich gut, Ira. Du trägst es, als ob es für dich geschneidert worden wäre.«

Ira legte den Kopf schief und ein weicher Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht, dicht gefolgt von einem verlegenen Lächeln. »Galatea, du bist zu jeder Sekunde so unglaublich gut zu mir. Ich meine, du bist freundlich zu allen, selbst Atticus, wenn er wieder eine seiner trotzigen Minuten hat, aber ich kann nicht umhin als festzustellen, wie selten solch eine durchgängige... Freundlichkeit auf mich wirkt.«

Galatea blinzelte überrascht. »Manche würden mich als zahnlos bezeichnen.«

»Du bist nicht zahnlos«, gab Ira rasch zurück und machte einige erstaunlich sichere Schritte auf Galatea zu, ehe sie ihre Hände ergriff. Sie ließ sich von ihr auf die Beine ziehen und musste den Kopf in den Nacken legen, als Ira nun gut einen Kopf über sie aufragte. »Du bist ein guter Mensch, Galatea. Und du hast deine Prinzipien. Das ist das Gegenteil von zahnlos.«

»Ich weiß nicht«, sagte Galatea und räusperte sich verlegen. »Auch, wenn mich deine hohe Meinung von mir sehr ehrt.«

»Ist das, weil du zu jedem Zeitpunkt nur von diesen schrecklichen Slim-Fit-tragenden Männern umgeben bist, die konstant den Mund offen haben und reden und reden und trotzdem entweicht nur heiße Luft? Sind das diejenigen, die dich zahnlos nennen würden?«

Galatea riss die Augen auf. »Meinst du das Board?«

»Keine Ahnung«, sagte Ira und ließ ihre Hände los, während sie sich im Kreis vor dem Spiegel drehte, sodass die weiten Ärmel ihrer Bluse um sich herum flatterten. »Ich meine alles. Die ganze riesige Show. Überall die gleichen Typen, so wie der, mit dem du in der Cafeteria geredet hast. Der dich nicht zu Wort kommen hat lassen.«

Wir irren des NachtsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt