Sie hatte Jahre Zeit gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen, mit einer entfremdeten, lieblosen Mutter geschlagen zu sein, die sich nicht im Entferntesten auch nur für den winzigsten Aspekt ihrer Person interessierte.
Über die Jahre hinweg hatte sie jedes noch so jäh aufsteigende Bedürfnis nach Genevieve sorgsam in die Tiefen ihres Unterbewusstseins verbannt, und jede Anwandlung einer schmerzhaften Einsamkeit durch Edythe gelindert gesehen, die immer gewusst hatte, wann Galatea der schützenden Hand und liebenden Führung einer Mutter bedurfte.
Galatea hatte immer gewusst, dass die Beziehung zu ihrer Mutter unrettbar zerstört war, dass es keine Hoffnung auf Versöhnung oder Annäherung gab, weil Genevieve sie nicht einmal wirklich als ihre Tochter sah. Für sie war sie lediglich ein Zeugnis dessen, dass die Vanguards die Macht eifersüchtig hüteten, über die sie verfügten und sie gewiss nicht mit einer Außenstehenden teilen würden, erst recht keiner, der man emporkömmlerische Tendenzen unterstellen konnte.
Von ihrer sogenannten Mutter jedoch an den Haaren über den Boden der Bibliothek gezerrt zu werden, war ein neuer Tiefpunkt auf der rapide abfallenden Kurve ihrer Beziehung zueinander.
»Hör auf, so herumzuzappeln«, zischte Genevieve und schlug ihr mit dem Ellbogen ins Gesicht, als Galatea Anstalten machte, Genevieves Handgelenk zu umfassen, um sich so gegen die höchst schmerzhafte Behandlung ihrer Haarwurzeln zur Wehr zu setzen. »Du machst alles noch schlimmer.«
Galatea spürte einen dumpfen Schmerz, dort, wo Genevieves Ellbogen sie getroffen hatte und sie stieß überrascht die Luft aus, während sie nun blind nach Genevieve schlug, die sie jedoch aufgrund ihrer nachteiligen Position nicht richtig erkennen konnte.
»Was ist passiert?«, fragte sie atemlos, während sie versuchte, sich in Genevieves Schraubstockgriff umzudrehen. »Wo sind die anderen?«
»Oh, ich sage dir was passiert ist«, sagte Genevieve und ihre Stimme troff vor Verachtung. »Die edlen Herren dort drüben in Panta Chorei haben uns die Tür vor der Nase zugeschlagen, noch ehe ich hinter Atticus und Ira hindurchschlüpfen konnte.«
»Ich kann nicht sagen, dass ich überrascht bin«, sagte Galatea und es gelang ihr, sich aus Genevieves Griff zu befreien, indem sie die Zähne zusammenbiss und ihren Kopf in die entgegengesetzte Richtung riss, sodass Genevieve mit ein paar ihrer Haarsträhnen in der Hand zurückblieb und Galateas Kopfhaut sich anfühlte, als sei sie in Brand gesetzt worden.
Genevieve ließ angewidert die goldenen Strähnen fallen, die sich noch zwischen den Fingern hielt und sie segelten zwischen ihnen langsam zu Boden.
Sie hatten dieselbe Farbe und Struktur wie Genevieves Locken.
Diese Feststellung schien Genevieve ein paar Sekundenbruchteile auf ihrem Pfad verharren zu lassen, dann jedoch riss sie sich von dem Anblick los, und zog stattdessen ein kurzes Schmetterlingsmesser, dass sie dem Ärmel ihres Mantel anvertraut zu haben schien, mit dem sie sofort auf Galatea deutete.
»Du kommst mit«, sagte sie. »Oder ich ritze dir dein Gesicht auf.«
»Wohin gehen wir?« Galatea spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte.
Genevieve ließ sich nicht dazu herab, ihr zu antworten, stattdessen packte sie Galatea an ihrem Kragen und legte die scharfe Klinge des Messer an ihre Kehle an, während sie Galatea zwischen den hohen Bücherregalen auf den Eingang zuzerrte.
»Du kannst diese fantasielose Machtdemonstration auch wirklich lassen«, sagte Galatea. »Ich komme auch mit, ohne, dass du mir ein Messer an die Kehle hältst.«
Genevieve blickte sie angewidert an. »Es ist widerlich, wie schwach und rückgratlos du bist. Ich kann nicht glauben, dass ich dich geboren haben soll.«
DU LIEST GERADE
Wir irren des Nachts
Fantasy❝Wann immer etwas fürchterlich schiefläuft in dieser Welt, lässt sich der Ursprung dieses Übels allzeit auf einen Vanguard zurückführen, der gerade seinen Kampf gegen das Böse verloren hat.❞ - Inoffizielles Motto der Familie Vanguard ❥ Außenstehende...