KAPITEL 1: Ouroborus-Residenz, Connecticut, 19. April 2019

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Niemand verwendete jemals die Haupttüre. Sie war über die Jahre hinweg in Vergessenheit geraten, ein Überbleibsel aus einer Zeit, in der gesellschaftlicher Vorzeigbarkeit noch größere Bedeutung eingeräumt worden war.

Während des kontinuierlichen Sittenverfalls der Familie Vanguard hatte sich auch der gesamte Durchzugsverkehr in Richtung des Westflügels verlagert, der in den späten Neunzigern nach einem verheerenden Hausbrand von Grund auf neu saniert worden war. Anstelle eines dem Ostflügel identischen Anbaus war ein Wintergarten errichtet worden, ein gläserner Brustkorb, dessen weißes Metallgerüst sich rippengleich gegen die Fenster abhob.

Die zwei Bewohner der Ouroboros-Residenz waren unlängst zu der stillen Übereinkunft gekommen, dass es sich nur in besagtem Glashaus wirklich gut aushalten ließ.

Ihre Angewohnheit, mit Steinen zu werfen, hatten sie im beidseitigen Einvernehmen beigelegt und ihre Schlafenszeiten voneinander entwirrt, sodass sie sich nur zu Tages- und Nachtumbruch auf dem Treppenabsatz begegneten, um ihren Schichtwechsel vorzunehmen.

Das Holz gewordene Rudiment der Haupttüre bestand indes ungeachtet weiter. Seit mehreren Jahren nun hatte sie keinen Weihnachtskranz mehr getragen und die Freitreppe, die zur überdachten Empore führte, war mit der Zeit aufgrund Witterung und Vernachlässigung gräulich angelaufen.

Jeder, der etwas in der Residenz oder mit ihren Bewohnern zu schaffen hatte, trat durch den Seiteneingang ein, der sich an der Rückseite des Anwesens zwischen holzgestärkten Pfeilern verbarg und in den vorzeigbaren Bereich des Wintergartens führte.

Einmal in der Woche, am Dienstag, kam die Putzhilfe und reinigte das gesamte bewohnte Areal, goss die Pflanzen, trimmte die vertrockneten Triebe und braun gefleckten Blätter und ließ der Katze ein Bad ein.

Mittwoch und Samstag stattete der Zulieferer seinen angesetzten Besuch ab, füllte die zwei Kühlschränke bis zum Rand mit Fertiggerichten und Tiefkühlkost – denn um die Kochkünste der zwei Einsiedler war es äußerst schlecht bestellt – und entsorgte das Gemüse und Obst, auf das seine Auftraggeberin aus Kalifornien trotz der offensichtlichen Nichtachtung weiterhin bestand.

Seltener waren die Aufwartungen der kalifornischen Lady selbst. Sie sah einmal im Quartal vorbei, wenn sie in New York City zu schaffen hatte und es sich nicht länger aufschieben ließ, doch ihre Anstandsbesuche blieben kurz und waren frei von jeglicher Herzlichkeit.

Sie ähnelten vielmehr dem Routinebesuch beim Gynäkologen – für alle Beteiligten höchst unangenehm, jedoch eine Pflicht, die nicht verabsäumt werden durfte.

All diesen vielfältigen, wenngleich kurzlebigen Heimsuchungen lag der gemeinsame Kern zugrunde, dass sie das unausgesprochene Gebot der verschmähten Haupttür zu achten wussten.

Die Fremde, die zwei Meilen südlich über die Hecke an der Grundstücksgrenze geklettert war, ahnte nichts von der merkwürdigen Etikette der noch viel merkwürdigeren Familie, in deren Eigentum sie eingedrungen war.

Sie besah sich die Haustür, auf die jede Linie, jedes winzigste Detail in der eindrucksvollen Vorderansicht des Anwesens zuzulaufen schien, und zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass sie darauf zuhalten sollte.

Ihre Füße schmerzten, sie hatte diabolisches Seitenstechen von ihrem Trab über das ausladende Gelände bis zur Anhöhe, auf der das Anwesen thronte, und als sie über die Hecke geklettert war, hatte sie sich einige blutige Schrammen in Gesicht und Händen zugezogen – doch allein die schiere Größe des Herrenhauses ließ sie leise Luft durch ihre Zähne ausstoßen und ihre Blessuren kurzzeitig vergessen.

Sie presste sich ihre Hände in die Seiten, während sie die letzten Schritte zum Eingangsbereich zurücklegte.

Hinter den blicklosen Fenstern des Erdgeschosses war keine Bewegung zu erkennen, kein künstliches Licht oder sonstiges verräterisches Geräusch, das die Schlussfolgerung auf ein Lebenszeichen zugelassen hätte.

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