KAPITEL 26: Ouroborus-Residenz, Connecticut, 8. Mai 1998

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Wie Charlie es trotz allem zustande brachte, für die Universität mitzuarbeiten, war Nicholas schleierhaft. Sie hatte in den letzten Wochen so viele Aufgaben für die Vanguard Foundation angenommen, dass ihm alleine vom Zusehen schwindlig geworden war – fuhr drei Mal in der Woche nach New York, um an Treffen der Foundation teilzunehmen, und hatte gerade die Bestnote in ihrer Macro-Klausur abgestaubt.

Genevieve hatte ihr Studium mehr oder minder auf Eis gelegt, und Nicholas hatte ohnehin nie ernsthaft studiert. Die zwei bezeugten Charlies Unermüdlichkeit mit einer Mischung aus Faszination und Neid.

»Unglaublich«, murmelte Genevieve von der Rückenlehne des Sofas, auf die sie sich rittlings gesetzt hatte und in einem alten Schmöker blätterte, den sie in der Bibliothek des Hauses gefunden hatte, die er wohl seit mehreren Jahren nicht mehr betreten hatte.

»Nicht wahr?«, antwortete Nicholas mit widerwilliger Bewunderung.

Sie beide blickten zu Charlie, die draußen vor dem neuerrichteten Glashaus in der Dämmerung mit einem dieser neumodischen, riesigen Handy am Ohr auf- und abschritt und sich über irgendetwas ausließ. Die Fenster waren nur angelehnt, aber Nicholas verstand trotzdem kaum mehr als »Liquidierungsangelegenheit« und »Armutszeugnis«.

»Was ist das Problem?«, fragte er Genevieve, die ihr Buch gegen die Brust gepresst hielt und ihrer Schwester dabei zusah, wie sie jemanden am anderen Ende der Telefonleitung zur Schnecke machte.

Sie zuckte mit den Schultern. »Eines ihrer Projekte. Irgendetwas mit der Genehmigung des Kredits, weil das Board offensichtlich ihre Ressourcen eingefroren hat.«

»Wieso?« Nicholas wandte sich verwirrt zu ihr um.

»Die bevorstehende Geburt.«

Er spürte das vertraute dumpfe Gefühl in seinem Mageninneren, das jedes Mal mit voller Wucht zurückkehrte, wenn ihm wieder bewusst wurde, was ihnen blühte. Er hatte eine schreckliche Vorahnung.

»Das wird schon werden«, sagte Genevieve mitfühlend, die ihn von der Seite gemustert hatte. »Mach dir keine Sorgen.«

»Ich wusste, dass es irgendwann passieren würde«, sagte er seufzend. »Aber ich war nicht bereit dafür, dass es so früh ist. Ich bin doch schon kaum ein Musterbeispiel der inneren Ruhe und Selbstbeherrschung, und falls es ein Junge wird, dann haben wir zwei von uns.«

»Du wirst nicht flippen«, sagte Genevieve wieder, ihre Stimme weich und geduldig. »Und wir müssen erst einmal drauf warten, ob es wirklich ein Junge wird. Dann können wir anfangen, uns darüber den Kopf zu zerbrechen.«

»Du hast recht«, sagte er leise. Er spürte, dass der Knoten in seiner Brust sich ein wenig lockerte, aber das ungute Grundgefühl blieb. »Ich kapier nur nicht, wieso das Board plötzlich so leise tritt.«

»Soweit ich das verstanden habe«, sagte Genevieve, »hält es fürs Erste seine Ressourcen nach innen gerichtet. Bis wir Genaueres wissen. Das war bislang immer so.«

»Aber sollten wir nicht gerade jetzt so viel Geld wie möglich in Charlies Projekte investieren? Für das Wohl der Gesellschaft? Wer weiß, was für ein Behemoth uns bald erwarten wird.«

»Ich glaube ihr Argumentationsstrang ist dabei so etwas in die Richtung, wieso ausbauen, wenn es sowieso später unweigerlich zu Schutt und Asche zerfallen kann.«

Er hob eine Augenbraue, ehe er sich zu ihr umwandte. »Du passt zu ihnen.«

»Zu wem?«

»Zum Board.«

»Nein«, grinste sie, obgleich sie von seiner Gleichsetzung weniger beleidigt schien, als er es in solch einem Fall gewesen wäre. »Ich habe nur zu viel Zeit mit Tennyson verbracht. Wenn du ihn zu sehr ermutigst, dann hört er nicht mehr auf zu reden. Weißt du viele Schwächeanfälle ich bereits vorgetäuscht habe, damit er endlich den Mund hält? Der Typ muss langsam glauben, ich hab einen Bandwurm oder so etwas, das mein Gleichgewicht gefährdet.«

Wir irren des NachtsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt