Er hatte sich aus den Schatten heraus gelöst, die um die kleine Krypta herum bestanden, als hätte er bereits auf sie gewartet. Als sie die mühelose Schnelligkeit bezeugte, mit der er an Atticus' Seite auftauchte, und ihm die Klinge eines langen, gebogenes Dolches an die Kehle hielt, wurde ihr bewusst, dass er tatsächlich in den Schatten gelauert hatte.
Er war hochgewachsen, mager und drahtig wie Atticus selbst, mit dunklen Locken, die so lang waren, dass sie in seinem Nacken zusammenfielen. Auf den ersten Blick wirkte er wie sein Zwilling – nein, nicht ganz, eine düsterere, etwas verschwommenere Version von ihm, mit schräg stehenden Augen und höheren Wangenknochen, als Atticus sie besaß.
Er zischte ihn an, ungehalten, zornig, zittrig. »Was fällt dir ein«, hörte Ira seine grollende Stimme an ihr Ohr dringen, »ungebetene Fremde in dein Königreich einzuladen?«
Sie dachte sofort an Genevieve und Galatea, Mutter und Tochter, die einander glichen wie Schwestern und nichts als Abscheu für die jeweils andere in ihrem Herzen trugen. Doch als sie sich umdrehte, waren sie nicht dort.
Die kleine Krypta war vollkommen ausgestorben bis auf sie beide, der Zugang zur anderen Bibliothek, derjenigen, in der Nacht geherrscht hatte, war verdeckt, als sich die Kapelle einmal um sich selbst gedreht hatte.
»Was?«, hörte Ira Atticus verwirrt fragen.
»Deine Tante und deine Cousine«, gab der Schatten ungehalten zurück.
»Das war nicht meine Absicht«, begann Atticus sich prompt zu rechtfertigen. »Diese Irre hat mich gezwungen, sie hat–«
»Gezwungen?« Nun grinste der Königsmacher doch. Es war ein höhnisches, raubtierhaftes Lächeln, bei dem sich mehr seine Lefzen emporhoben, als dass seine Mundwinkel sich nach oben gewandt hätten. »Ach, komm schon, Atticus. Jemanden wie dich kann man zu nichts zwingen.«
»Wo sind sie?«, fragte Ira bestimmt, und musste merken, dass ihre Stimme zitterte. Auch, wenn ein bodenloser Zorn in ihrem Inneren brodelte, wenn sie an Galatea dachte, musste sie dennoch zugeben, dass sie sich um sie sorgte. »Warum sind sie nicht hier?«
»Sie sind noch dort, wo ihr sie zurückgelassen habt«, antwortete der Königsmacher. »Ich habe ihnen den Weg versperrt, als ich bemerkt habe, dass sie Anstalten gemacht haben, dir zu folgen. Du solltest deinem Schicksal Dankbarkeit zollen, dass ich hier war, um sie aufzuhalten, Prinz.«
»Sie sind also nicht hier?«, fragte Ira und riss überrascht die Augen auf. »Genevieve schien sich so sicher zu sein, dass sie–«
»Nun, um ein Haar wäre sie geradewegs hinter euch aus dem Durchgang spaziert, wenn ich sie nicht rasch in der anderen Ebene verankert hätte.« Der Königsmacher verdrehte seine Augen. »Dankt mir nicht alle auf einmal.«
»Warum sollten wir dir danken?«, fragte Atticus bissig. »Ich sehe nicht, inwiefern das meine Schuld sein soll, also danke ich dir sicherlich nicht für etwas, wofür ich keine Verantwortung trage.«
»Warum hast du mich nicht aufgehalten?«, fragte Ira indes, während sie neugierig aus der kleinen Krypta in die Bibliothek trat. Als sie aus den Fenstern blickte, sah sie zu ihrer Überraschung nicht die gewohnte Ansicht der leichten Hügellandschaft, die sich bis in die Unendlichkeit ausbreitete, sondern etwas, das wirkte, wie ein Höhlenmauer. Solider Stein, ungefähr zwanzig Meter von ihnen entfernt, der sich bis weit in die Höhe zu ziehen schien. Waren sie hier etwa unterirdisch?
»Weil ich es nicht kann«, gab der Königsmacher mit einem verärgerten Unterton in der Stimme zurück. »Eigentlich kann ich Galatea auch nicht daran hindern, zwischen den Ebenen ein- und auszugehen, weil sie Hyperchronisten-Blut in sich hat, aber entweder hat sie nicht bemerkt, dass sie frei war zu gehen, oder sie ist freiwillig zurückgeblieben.«
DU LIEST GERADE
Wir irren des Nachts
Fantasía❝Wann immer etwas fürchterlich schiefläuft in dieser Welt, lässt sich der Ursprung dieses Übels allzeit auf einen Vanguard zurückführen, der gerade seinen Kampf gegen das Böse verloren hat.❞ - Inoffizielles Motto der Familie Vanguard ❥ Außenstehende...