KAPITEL 9: Ouroborus-Residenz, Connecticut, 21. April 2019

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Am nächsten Morgen erwachte Ira mit einem Gefühl der Tatkräftigkeit. Sie schlug ihre Bettdecke zurück und setzte sich auf. Ein merkwürdiger Optimismus hatte von ihr Besitz ergriffen. Es war fast so, als hätte sich ein gigantischer Stein, der in den letzten Monaten, fast Jahren, auf ihren Magen gedrückt hatte, sich von einem Tag auf den anderen in Wohlgefallen aufgelöst.

Sie war auf einem guten Pfad. Sie war das Risiko eingegangen, dem Brief zu folgen, der sie ohne einen Absender auf ihrem Bett erwartet hatte, als sie um fünf Uhr morgens von ihrer Barschicht in ihr winziges, schäbiges Apartment zurückgetaumelt war.

Sie hatte den Test bestanden, die Prüfung, die genauso gut nur eine Farce gewesen sein konnte, so willkürlich wie sie sich angefühlt hatte. Und nun war sie zurück in diesem abgeschiedenen, tödlichen Haus und im Begriff, zum ersten Mal in ihrem Leben Kontrolle über sich selbst zu erlangen.

Eine Weile hatte sie, jedes Mal, wenn sie die Augen geschlossen hatte, ein Drahtseil gesehen, das hoch, mehrere hundert Meter über dem Erdboden zwischen zwei unerkennbaren Punkten verlaufen war. Vor ihrem inneren Auge war sie darüber balanciert, ohne Stange in der Hand oder Auffangnetz unter ihr. Es war ein empfindlicher Akt gewesen, ihre Füße auf den geflochtenen Draht aufzusetzen, und sich vorsichtig, graduell über die nebelige Schlucht unter sich zu bewegen.

Lange Zeit hatte Ira nicht verstanden, wieso ihr Unterbewusstsein sie konsequent immer und immer wieder auf das Seil gesetzt hatte. In ihrem gesamten Leben hatte sie niemals auf einem Seil gestanden, es war keine verschüttete Kindheitserinnerung, die sich gewaltsam wieder an die Oberfläche drängen wollte.

Irgendwann hatte sie jedoch die Realisation ereilt, dass ihr Verstand ihr krampfhaft zu verdeutlichen versucht hatte, dass sie an der Kante balancierte. Dass nur eine falsche Bewegung dafür sorgen könnte, sie mit rudernden Armen in einen bodenlosen Abgrund stürzen zu lassen.

Sie hatte nie in Erwägung gezogen, wie angespannt jede einzelne Muskelfaser ihres Körpers unentwegt sein musste, wie verzweifelt sie versuchte, den Balanceakt zwischen ihrer salonfähigen, kontrollierbaren Person und dem Feuerteufel unter ihrer Haut zu wahren. 

Doch nun, als sie an die Decke ihres Zimmers blickte und die Morgensonne dabei beobachtete, wie sie ihr goldenes, gesponnenes Licht über ihr ausbreitete wie ein Segel aus warmer Hoffnung und neugieriger Voraussicht, bemerkte sie, dass das Drahtseil verschwunden war.

Diese Entdeckung beschwingte sie so derartig, dass sie aus dem Bett hüpfte und Ordnung in das Zimmer brachte, das sie seit zwei Tagen bewohnte.

Sie hatte Galatea gestern nicht mehr gesehen; die höfliche Vanguard hatte ihr die Botschaft zukommen lassen, dass ihre Arbeit sich noch ziehe und Ira von dem Fahrer nach Meriden zurückgebracht werden würde. Der Befund in ihrer Hand hatte Ira so erfüllt, dass sie nicht einmal wirklich enttäuscht gewesen war.

Vermutlich würde Galatea die Nachricht ihres Prüfungserfolg auf anderem Wege ereilen, aber Ira hatte sich fast darauf gefreut, ihr davon zu berichten, dass sie den Untergang der Welt nicht in die Wege leiten würde.

Jemand, der dazu jedoch sehr wohl in der Lage war, schlief im Augenblick nur ein Stockwerk über ihr und der Gedanke war wie ein Eindringling in der Idylle ihrer Hochstimmung. Sie ließ sich nachdenklich auf den Rand ihres Bettes sinken und starrte auf den fleckenlosen Fußboden.

Zu ihrer großen Überraschung hatte Atticus sie gestern Abend bei ihrer Rückkehr an der Haustür erwartet. Er hatte im Rahmen gelehnt und sie mit unergründlichem Blick fixiert.

Vielleicht war es ein Fehler gewesen, als erste Amtshandlung lauthals »Ich habe bestanden!« zu triumphieren, wenn sie bedachte, wie hart er vermutlich selbst mit seiner Ungeeignetheit zu ringen hatte, denn Atticus hatte lediglich mit hohler Stimme einen Glückwunsch gemurmelt und war im Haus verschwunden.

Wir irren des NachtsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt