Kapitel 4 : Eddie der Verstossene

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Nickis Sicht

Sofort machen wir uns auf den Weg. Dustin meint, dass Eddie sich wohlmöglich in einer kleinen Hütte im Wald verstecken könnte. Eine Hütte, in der er immer seine Geschäfte abwickeln würde. Drogen... na toll. Ist Chrissy vielleicht deswegen bei ihm gewesen? Um Drogen zu kaufen? Nein, das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Ich traue Chrissy wirklich vieles zu, sogar eine Art Beziehung mit Eddie, aber Drogen? Das klingt mir dann doch irgendwie zu verrückt. Obwohl... so wie es aussieht, ist ziemlich alles möglich hier in Hawkins.

Wir fahren fast 20 Minuten stillschweigend durch den dichten Wald, als wir endlich auf eine Art Lichtung kommen. Gezeichnet von den Geschehnissen dieser Nacht steigen wir aus und bleiben erstmal beim Auto stehen. „Was, wenn Eddie Chrissy doch umgebracht hat?" fragt Lucas leise und hörbar besorgt. Er hat ja nicht unrecht. Wenn wir alle völlig falsch liegen und Eddie irgendwie dazu in der Lage sein sollte, so etwas zu tun, dann würden wir ihm direkt in die Arme laufen. Wie gesagt, in Hawkins ist nichts unmöglich.

Niemand sagt auch nur ein Wort, die Frage von Lucas schwebt über uns, lässt uns zweifeln, aber keiner scheint einen Rückzieher machen zu wollen. Dustin ist der erste, der sich aus seiner Starre löst und geht zur Haustür der heruntergekommenen Holzhütte. Behutsam klopft er an die Tür. „Eddie? Bist du da? Ich bin's, Dustin." Wie zu erwarten, erhält er keine Antwort, doch anstatt nochmal zu klopfen, betritt er die Hütte und lässt uns draußen zurück. Entweder ist Dustin verdammt mutig oder verdammt dämlich, ich entscheide mich für das zweite, als wir einen Schrei hören – ein Schrei, der unverkennbar zu Dustin gehört.

Ohne nachzudenken rennen wir alle in die Hütte, bereit, unseren Freund zu retten. Eddie steht vor Dustin mit einer Scherbe in der einen Hand und drückt Dustin mit der anderen Hand gegen die Wand. „Woah, woah, woah! Eddie, hör auf!" schreie ich und reiße Eddie von Dustin los und schubse ihn zur Seite. Eddie, der wohl nicht damit gerechnet hat, taumelt zurück und stolpert über einen der beiden Hocker im Wohnzimmer. Für eine Minute kehrt absolute Stille ein und keiner rührt sich. Eddie sitzt auf dem Boden, blutverschmiert und mit Panik in den Augen, und hält sich das Handgelenk. „Es... es tut mir so leid", flüstert er, und die Anspannung im Raum fällt von uns allen. Gott sei Dank, er ist weder besessen noch in einem Mordrausch.

„Hey, alles gut, Eddie, nichts passiert", sagt Dustin fast schon liebevoll und kniet sich zu ihm. Das bewundere ich an ihm, sein Herz ist einfach zu gut für diese Welt. „Was ist passiert?" fragt Max und setzt sich ebenfalls auf den Boden. Steve, Lucas und ich tun es ihr gleich, sodass wir alle wie in einem Kreis auf dem Boden sitzen. Ungläubig blickt Eddie uns alle an, so als ob er es nicht glauben kann, dass wir alle hier sind. Steve reicht ihm ein Taschentuch, eine kleine, aber wirkungsvolle Geste, denn genau so wie ich fängt Eddie an, alles zu erzählen.

„Ich... ich ehm... Gott, ihr werdet mir nicht glauben", beginnt er mit zittriger Stimme, und sein Blick trifft flüchtig meinen. „Eddie, ich habe Chrissys Leiche gefunden."

Tränen sammeln sich in seinen Augen, doch er unterdrückt sie, um stark zu bleiben, um nicht völlig den Verstand zu verlieren. „Ich wollte das nicht. Sie wollte etwas bei mir kaufen, etwas gegen ihre Angstzustände. Ich bot ihr an, dass ich ihr etwas von meinem Ketamin geben könnte und naja, sie... sie sagte Ja. Sie war komisch drauf... aber naja, ich habe mir einfach nichts dabei gedacht... versteht ihr?" Ein verständnisvolles Nicken geht durch die Menge. „Ich ging also in mein Zimmer, um das Ketamin zu holen, und als ich zurückkam, stand sie wie angewurzelt da, völlig regungslos, so als ob sie in Trance wäre."

„Wie unter einem Bann?" hackt Steve nach. „Oder ein Fluch?"

„Ja. Wie eine Art Fluch. Sie... sie begann zu schweben. Ich versuchte, sie zu wecken, aber sie war weg und auf einmal flackerten alle Lichter und alle ihre Knochen fingen an zu brechen. Und ihre... ihre Augen, sie... wurden wie zerdrückt... ich weiß auch nicht, es klingt echt verrückt." Seine Stimme versagt und er legt seinen Kopf in seine Hände. Vorsichtig rutsche ich zu ihm und nehme seine Hände in meine. „Wir glauben dir, Eddie. Was oder wer auch immer Chrissy das angetan hat, war nicht von dieser Welt."

Eddie durchlebt dieselbe Achterbahn an Gefühlen wie ich, während Dustin ihm alles erzählt. Von „verarscht mich" bis zu „Steve Harrington und diese Kids haben gegen Monster gekämpft?!", ist alles dabei gewesen und ich habe die ganze Zeit mit ihm gefühlt, denn auch beim zweiten Mal ist es verdammt viel zu verdauen.

Eddie fängt langsam an zu verstehen und was noch wichtiger ist, er scheint uns endlich zu vertrauen. Die Sonne geht draußen langsam auf und die Müdigkeit und der Stress der letzten Nacht stehen uns allen ins Gesicht geschrieben. Wie konnte sich mein Leben in nur 12 Stunden so drastisch verändern? „Und? Was ist jetzt der Plan?" fragt Eddie und blickt uns erwartungsvoll an.

„Ich denke, das Beste ist es, wenn wir versuchen, Will und Elfi in Lenora zu erreichen. Dann denke ich, sollten wir Robin und Nancy ins Boot holen und, ehm... rausfinden, was die Polizei vorhat", schlägt Steve vor, der in dem ganzen Tumult irgendwie die Leitung unserer kleinen Gruppe übernommen hat. Gott, bin ich dankbar, dass er hier ist. Auf Steve kann man sich immer verlassen, mehr als ich es überhaupt gewusst habe.

„Und ich schätze, dass es Sinn ergibt, wenn du dich hier weiterhin versteckst", fügt Dustin hinzu und streckt Eddie ein altmodisches Walkie-Talkie hin. „Wir müssen in Kontakt bleiben und das Handy können sie zurückverfolgen", erklärt Dustin. Immer noch sichtlich überfordert, nimmt er das Walkie-Talkie und streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Seine Lippe ist mittlerweile noch mehr aufgerissen und blutunterlaufen. „Darf ich?" frage ich leise und deute auf das Blut an seiner Lippe. Er nickt, wenn auch nicht unbedingt begeistert, und lässt mich die Stelle mit einem Taschentuch abtupfen. Für eine Sekunde ist dieser Moment der friedlichste, den ich seit Stunden erlebt habe.

„Irgendjemand muss hierbleiben, bei Eddie..." Max hat recht, doch ich bezweifle, dass er mich hier haben will. „Nicki. Sind deine Eltern zu Hause?" fragt mich Dustin, und ich schüttle den Kopf. „Nein. Wieso?" „Vielleicht solltest du hierbleiben? Keiner würde sich darüber wundern, dass du nicht zur Schule kommst, nachdem was passiert ist... und deine Eltern kriegen es nicht mit, und naja... Billy, schätze ich... du weißt schon."

Fuck, er hat recht. Ich bin die einzige logische Wahl. Mein Blick wandert zu Eddie, dessen Lippe ich immer noch leicht abtupfe. „Ich... ich schätze, Dustin hat recht", meint Eddie fast schon widerwillig. Ich nicke, und bevor Steve etwas einwenden kann, wirft mir Dustin seinen Rucksack zu. „Alles drin, was ihr braucht: eine Flasche Wasser, Batterien und einen Verbandskasten, und heute Abend bringen wir euch noch Essen und hoffentlich erfreuliche Neuigkeiten."

Eddie und ich nicken beide und vermeiden jeglichen Blickkontakt. Ich werfe das Taschentuch in den Müll und drehe mich zu Steve um, der mich besorgt ansieht. „Wir schaffen das schon."

Bevor sie losgehen, umarme ich alle innig und bete innerlich, dass dies nicht die letzte Umarmung sein wird, dass alles gut ausgehen wird und wir alle wieder nach Hause gehen können.

Das Auto verschwindet langsam zwischen den Bäumen und lässt mich und Eddie allein zurück.


Die Geschichte von Eddie dem Freak (Part One)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt