Kapitel 5 : Die Selbsternannten Rächer

47 3 0
                                    


Nickis Sicht

Still sitzen wir beide auf dem Boden. Keiner wagt es, auch nur ein Wort zu sagen. Was soll ich auch sagen? Dass ich mich wie eine Idiotin verhalten habe? Das weiß er bestimmt schon. Draußen fängt es langsam an zu regnen, und ein kalter Wind weht durch die nicht wirklich dichten Fenster. Automatisch reibe ich mir die Arme in der Hoffnung, es würde mir etwas Wärme spenden, doch das tut es nicht. Eddie, der das wohl bemerkt hat, zieht seine Lederjacke aus und streckt sie mir hin. Ich nehme sie dankend an und schlüpfe in die mir viel zu große Jacke. „D...danke", sage ich und atme tief ein. „Für alles."

Er schnaubt. „Ich bin doch schuld an allem, schon vergessen?" Seine Stimme klingt rau und brüchig. Denkt er das wirklich? Es bricht mir das Herz. „Hör auf damit, du weißt, dass du nichts falsch gemacht hast. Dich trifft keine Schuld."

Er glaubt mir nicht, starrt nur aus dem Fenster und würdigt mich keines Blickes. „Ich... Ich habe zwar nicht um deine Hilfe gebeten, gestern in der Schule, aber das heißt nicht, dass es mir nicht viel bedeutet hat", versuche ich es nochmal in der Hoffnung, er würde endlich mit mir reden, so richtig in ganzen Sätzen. Doch es nützt nichts, er will einfach nicht mit mir reden.

Ich krame nach einem Haargummi in meiner Tasche und nehme meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, während ich mir die müden Augen reibe. Ich bin so müde, aber jedes Mal, wenn ich meine Augen schließe, sehe ich sie. Chrissy, wie sie da liegt und sich nicht bewegt.

„Ich... ich hätte bei Chrissy bleiben sollen", flüstert er und blickt weiter starr aus dem Fenster. „Sie hätten dich verhaftet, Eddie. Du hättest nichts für sie tun können." Er nickt und dreht sich zu mir mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. „Vor ein paar Stunden dachte ich, dass ich dich nie wieder sehen will, und jetzt bin ich froh, dass ich nicht allein bin. Verrückt, oder?"

Ich lache leicht. „Ja... fast so verrückt wie die Tatsache, dass es Monster in Hawkins gibt", erwidere ich und entlocke ihm ein kleines Lachen. Es ist nichts Weltbewegendes, aber es tut gut zu wissen, dass wir beide noch etwas anderes als Trauer empfinden können. „Oder die Tatsache, dass Steve Harrington mit uns gekämpft hat", schmunzelt er, und prompt lachen wir beide los, ein unbeschwertes und völlig unpassendes Lachen. Aber ein echtes, und das ist in dem Moment das Wichtigste.

Völlig neben der Spur und gezeichnet vom Schlafmangel kriegen wir uns fast nicht mehr ein vor Lachen, als plötzlich Dustins Stimme durch das Walkie-Talkie uns wieder in die Realität holt. „Leute, hier ist Dustin, bitte kommen. Over." Ich nehme das Walkie-Talkie und antworte. Ob sie vielleicht schon gute Neuigkeiten haben? Ich hoffe es, ich hoffe es so sehr.

„Ihr müsst sofort weg! Die Polizei weiß von der Hütte."

Panisch springt Eddie auf und packt alle Sachen in den Rucksack. „Dustin, wo sollen wir denn hin?" Ich kann die Angst in meinen Worten nicht verstecken. „Geht zum Lovers Lake, wir treffen euch in einer Stunde dort... beeilt euch!" Besorgt blicke ich zu Eddie und dann nach draußen. Es regnet wie aus Eimern, und es scheint ein Gewitter aufzuziehen. Das Glück ist wohl wirklich nicht auf unserer Seite. Eddie, der meine Angst zu spüren scheint, nimmt meine Hand und blickt mir tief in die Augen. „Wir packen das. Lovers Lake ist nicht weit entfernt. Okay?" Ich nicke unsicher. Was, wenn sie uns finden? Eddie zieht mich an sich und umarmt mich fest. Ich schlinge meine Arme um ihn und vergrabe mein Gesicht in seiner Brust. Sicherheit, diese Umarmung gibt mir Sicherheit und Vertrauen, Vertrauen darin, dass alles gutgehen wird.

Wir lösen uns voneinander und gehen nach draußen. Der Regen fällt wie aus Eimern auf uns herunter, doch wir beide wissen, dass wir so schnell wie möglich von hier weg müssen. Wir kämpfen uns durch das Dickicht des Waldes, nehmen Abkürzungen durch Gebüsche und über Steine, als ein lauter Schuss wie aus einer Pistole uns zusammenzucken lässt. Eddie schubst mich zu Boden und zerrt mich hinter einen umgefallenen Baum.

Er presst seine Hand auf meinen Mund und gibt mir mit der anderen Hand zu verstehen, dass ich leise sein soll. Mein Herz rast, und ich drücke mich an ihn. Schützend kauert er über mir, hält mich fest und späht über den Baumstamm. Ist das die Polizei? Haben sie uns gefunden? Mein Kopf hämmert, mein Herz rast, und ich kann kaum atmen, als ich zwei Stimmen aus der Ferne höre. „Ich schwöre, ich habe jemanden gesehen", sagt die eine Stimme, die mir irgendwie bekannt vorkommt. „Und dann schießt du einfach drauf los?!" faucht die andere Stimme. Die unverkennbare Stimme von Billy Hargrove. Schritte nähern sich, und Eddie legt sich schützend über mich. Das war's, wir werden sterben. Eine gefühlte Ewigkeit kauern wir so da, darauf bedacht, keinen Ton von uns zu geben.

„Billy?? Hier drüben!" schreit eine dritte Stimme. Die Schritte werden leiser, Eddie riskiert einen kleinen Blick und atmet auf. Sie scheinen in eine andere Richtung gerannt zu sein. Endlich nimmt Eddie seine Hand von meinem Mund, und ich atme die frische Luft ein. „War... war das Billy?" ... die Antwort kenne ich bereits. „Ja. Billy und Jason."

Jason. Natürlich. Er ist seit der vierten Klasse in Chrissy verliebt. Wenn jemand mit einer Waffe durch den Wald rennen würde, dann wohl er. Aber wieso Billy? Hat er bemerkt, dass ich nicht da war? Ich kann es mir nicht erklären, aber es macht mir Angst, große Angst. Langsam stehen wir auf und blicken uns um. Ist es jetzt sicher? Können wir weitergehen? Oder sind noch mehr selbsternannte Rächer auf der Jagd nach Eddie? Vorsichtig nimmt er meine Hand und führt mich weiter durch den Wald.

Endlich angekommen am Lovers Lake verstecken wir uns in einer kleinen Einbuchtung zwischen den Steinen. Nur der unregelmäßige Atem und das Prasseln des Regens sind zu hören. Mein Blick wandert zu Eddie, der sich an die Steine lehnt und sich die Seite hält. „Bist du verletzt?" flüstere ich und gehe zu ihm rüber. „Nein. Wahrscheinlich nur ein Kratzer." Blödsinn. Ich drehe ihn grob zu mir und ziehe sein T-Shirt hoch. Meine Augen weiten sich. Das ist kein Kratzer, das ist ein Streifschuss.

„Und?" Er atmet schwer. „Nur ein Kratzer, oder?" Ich beiße mir auf die Lippen und betrachte die Wunde. Klar, wenn man es richtig verarzten könnte, wäre es nicht weiter schlimm. Aber wir sind hier, auf der Flucht, und ich bin keine Ärztin. Ich schlucke schwer. „Ähm, ja, nur ein Kratzer."

Die Geschichte von Eddie dem Freak (Part One)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt