Auf Klassenfahrt

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Kati liebte Klassenfahrten, das Abenteuer einer fremden Umgebung, die Begeisterung über neue Erlebnisse. Die Lehrerin für Spanisch und Sport ging lächelnd durch einen Gemäldesaal des Prado-Museums in Madrid. Sie betrachtete die berühmten Bilder und hatte gleichzeitig ihre Schüler im Blick. Wie besprochen, traf sie sich mit ihren Kollegen Bert und Jana in einer ruhigen Ecke. Die gelangweilten Neuntklässler kamen zu ihnen.

»Hört mal her. Wir machen eine Kreativ-Übung.«

Die Jugendlichen ließen die Handys sinken und sahen zu ihr auf. Mit ihren 1,90 überragte Kati alle Schüler und viele erwachsene Männer. Sie war dreißig Jahre alt, gertenschlank, hatte lange blonde Haare und blaue Augen. Obwohl sie Turnschuhe, Baumwollhosen und weite T‑Shirts trug, um ihre Kurven zu kaschieren, sah sie aus wie ein Model.

»Ich möchte, dass ihr euch ein Gemälde aussucht, zu dem euch etwas einfällt. Sei es eine Zeichnung, ein Foto, eine Geschichte, eine Aktivität. Was immer euch Spaß macht. Das Ergebnis geht in eure Deutsch‑, Kunst‑ oder Spanisch‑Note ein, wenn ihr wollt.«

Die Schüler brauchten nicht nachzufragen. Sofort verteilten sie sich vor den Gemälden, holten Blöcke, Smartphones oder Kameras heraus. Klassensprecherin Marlene sprach einen Wachmann an, interviewte ihn pfiffig und strukturiert, so wie sie es schon oft für den Videokanal der Schule getan hatte. Ihre beste Freundin Mireille übersetzte simultan von Spanisch ins Deutsche. Faisal nahm alles mit einer Video-App auf. Anne hockte sich mit dem Malblock auf den Boden und kopierte das Porträt einer schönen Königin. Hasan erschuf eine Manga-Szene mit dieser Regentin als Heldin. Alle waren in ihrem Element.

Nur der aufmüpfige Ludwig saß auf einer Bank und starrte auf sein Handy. Kati setzte sich zu ihm und betrachtete das Gemälde vor ihnen.

»Was siehst du in diesem Bild?«, fragte sie.

Er sah irritiert auf. Das Bild zeigte eine Gruppe von weiß gekleideten Männern und Frauen bei einem Picknick an einem malerischen See.

»Das ist eine völlig unrealistische Szene. So ist das Leben doch nicht! Ich glaube, dass die Leute im nächsten Moment von Räubern überfallen und ermordet werden.«

»Mach dir Stichworte, damit du das Geschehen zu Hause nacherzählen kannst«, sagte Kati.

»Das brauche ich nicht. Ich vergesse nie einen Film, den ich gesehen habe.« Ein verschmitztes Lächeln huschte über sein Gesicht.

»Du hast schon einen Film im Kopf? Das ist großartig.« Kati zog einen leeren Notizblock und einen Stift aus der Tasche. »Ich möchte, dass du Anfang, Mitte und Ende dieses Films notierst. Sie sind die Basis jeder Erzählung.«

»Sie wollen, dass ich eine Geschichte schreibe?«

»Die Aufgabe lautet, dass du einen eigenen Zugang zu einem Gemälde findest und im Unterricht vorstellst. Drei Sätze reichen in diesem Fall aus.«

Ludwig sah sie nachdenklich an. »Und wenn es mehr als drei werden?«

»Das wird dir niemand übel nehmen.« Kati lächelte. »Es ist deine Entscheidung.«

Ludwig nahm Block und Stift. Sofort fing er an zu schreiben.

Kati ließ ihn allein und sah sich um.

Leonard, ein großer, impulsiver Fünfzehnjähriger bewegte seine langen Arme gefährlich nah an einem der unbezahlbaren Kunstwerke entlang. Kati eilte zu ihm. »Bitte tritt von dem Gemälde zurück!«

Der Junge sah sie trotzig an. »Ich soll mich doch ausdrücken. Jetzt versuche ich, Action in dieses Bild zu bringen, indem ich mit der Kamera Details aufnehme.« Er zeigte ihr, was er meinte.

Das Glück in der DunkelheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt