𝟐𝟗: 𝐑𝐄𝐔𝐍𝐈𝐎𝐍

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𝟐𝟗: 𝐑𝐄𝐔𝐍𝐈𝐎𝐍

»𝐃𝐄𝐅𝐈𝐍𝐈𝐄𝐑𝐄 𝐑𝐈𝐂𝐇𝐓𝐈𝐆 𝐌𝐔𝐓𝐈𝐆.«, stotterte ich und blickte auf die Preistafel, die an der Schaufensterscheibe angebracht war.
Wie konnte etwas so teuer sein?
Sicherlich, das Haareschneiden war auch eine Form der Kunst, aber bei den Preisen, die mit entgegensahen wurde mir ganz schwindelig.
»Mutig im Sinne von: Deine liebste Cousine schenkt dir eine Rundumverwandlung.«, sprach sie mir gut zu und knuffte mich in die Seite.
Mit hochgezogener Augenbraue betrachtete ich ihr farbintensives Haar.
So mutig war ich in keinem Fall.
Maya zwirbelte grinsend eine ihrer orangenen Strähnen auf und schüttelte dann lachend den Kopf.
»Keine Sorge. Ich hab eher daran gedacht, ein wenig Ballast abzuwerfen, Rapunzel.«, spielte sie auf meine ellenlange Mähne an.

Jetzt war ich diejenige, die eine ihrer Strähnen auf dem Finger aufwickelte und darüber nachdachte, mutig zu sein. Richtig mutig.
»Ich weiß nicht, ob ich es bereuen werde, aber...ich bin dabei.«, stimmte ich ihr zu und warf vollkommen überfordert und gleichzeitig freudig erwartend meine Hände in die Luft.
Eine Veränderung. Das war es was ich brauchte. Ballast abzuwerfen. Grandios.
Ehe ich es mir anders überlegen konnte, hakte sich Maya wieder bei mir unter und zerrte mich in das Innere des Friseurladens.
Die stickige Luft, die durch die vielen betriebenen Lockenwickler und Föhns um einiges unerträglicher gemacht wurde, bereitete mir augenblicklich Kopfschmerzen.
Die Voraussicht auf eine Kopfmassage wurde dadurch von Sekunde zu Sekunde verlockender.

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»Ich bin so froh, dass du dich doch für die braunen Strähnen entschieden hast. Das sieht so gut aus. So so so gut.«, flötete Maya zum bestimmt hundertsten Mal und pustete mir gegen das Schulterlange Haar.
Mein Blick fiel zurück in den Laden und ich genehmigte es mir, kurz im Türrahmen stehen zu bleiben.
Eine der Auszubildenden fegte gerade meine Haare vom Boden. So viele.
Sie hatten bestimmt 30 Zentimeter abgeschnitten, immerhin waren sie mir fast bis zum Hintern gegangen.
Ich hätte nicht erwartet wie unfassbar befreiend das Gefühl kürzerer Haare sein konnte. Ich fühlte mich so unbeschwert. Leicht.
Außerdem kamen meine Locken dadurch so viel besser zur Geltung, sie hatten durch den Schnitt eine bemerkenswerte Dynamik entwickelt.

Als wir durch die Mall schlenderten, auf der Suche nach einem Laden, in dem ein Kleid nicht die Ausgabe meines Monatslohns bedeutete , sah ich mich in jedem Schaufenster an.
Obwohl meine dunklen Haare Schwarz geblieben waren und nur durch einige braune Strähnen Highlights bekommen hatten, fühlte ich mich wie ein ganz neuer Mensch.
Zum ersten Mal, seitdem sich mein Leben um 180 Grad gedreht hatte, empfand ich das nichts als Belastung, sondern als Chance noch mehr aus mir herauszukommen.
Schmerz bedeutete gleichzeitig zu wachsen und möglicherweise würde dieser Schmerz mich zu einem ganz neuen Menschen machen.
Nur zu gerne hätte ich Eddie mit meiner Aufregung angesteckt.
Aber weil er nun einmal Teil des Problems war und somit Ursprung meines Schmerzes, lag das nicht im Bereich des Möglichen.

»Was hältst du von dem?«, fragte mich Maya und deutete auf ein korallfarbenes Kleid, das mir vielleicht gerade einmal fünf Zentimeter über den Hintern gehen würde.
Wenn das Mom sah würde sie ihn Ohnmacht fallen und mich auf jeden Fall enterben.
Sie hatte vielleicht nicht großartig etwas dagegen, wenn gewisse Herren bei mir übernachteten, aber in der Öffentlichkeit leicht bekleidet herumzulaufen war dann eine ganz andere Nummer.
»Es ist wirklich schön.«, stimmte ich Maya zu.
»Aber das wäre nicht ich. Das ist zu...«, ich überlegte angestrengt nach einem passenden Vergleich.
»Zu...Judy?«, schlug sie mir vor.
Ich wollte protestieren und mir die Hände vor den Mund schlagen, aber eigentlich...hatte sie Recht.
Dieses verboten kurze Kleid war wie für Judy geschneidert, aber ich würde mich darin fühlen wie verkleidet.

• 𝐉𝐔𝐒𝐓 𝐎𝐍𝐄 𝐊𝐈𝐒𝐒 • [ 𝚎𝚍𝚍𝚒𝚎 𝚖𝚞𝚗𝚜𝚘𝚗 ]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt