Milo schlief nach kurzer Zeit ein und der Griff um Etiennes Hand lockerte sich und dieser zog sie weg und verließ das Bett. Er setzte sich auf das Sofa, neben Florence und nahm die Erinnerungskiste zur Hand und öffnete den ersten Brief.
All die Jahre hatte er es nicht übers Herz gebracht, sie erneut zu lesen. Zu schmerzhaft war die Vorstellung, dass er Milo nie wiedersehen würde, aber jetzt, da er wusste, dass die Liebe seines Lebens im Zimmer nebenan lag, war er bereit dazu.
Die Liebe, die mit jedem Brief mitschwang, verdrängte die Einsamkeit, die sich Stück für Stück in sein Leben geschlichen hatte. In jedem Brief das Versprechen, dass sie sich wiedersehen würden.
Milo hatte es gehalten. Etienne schloss die Kiste und ging Richtung Schlafzimmer, vorher strich er aber nochmal über die hölzerne Note. Sie war das Zeichen dafür, dass es draußen in der Welt jemanden gab, der an ihn glaubte und Etienne glaubte an ihre Liebe.
An die Liebe, der auch 20 Jahre nichts anhaben konnte.
Eine Weile lag er noch neben Milo und dachte an die Jungen, die sie einst gewesen waren und daran, wie rein ihre Sommerliebe gewesen war und er fragte sich, ob ihre Liebe dem echtem Leben standhalten könnte. Aber wenn er eins über die Liebe wusste, dann, dass sie ihren eigenen Regeln folgte. Sie war nicht gebunden an Raum oder Zeit, nicht mal an die Schwerelosigkeit, denn fühlte man sich nicht federleicht, wenn man verliebt war? So wie Etienne in diesem Moment.
Etienne setzte sich am Morgen, nachdem er Milo eine halbe Stunde beim Schlafen betrachtet hatte, ans Klavier. Er spielte eine Melodie, eine erwachsenere, als die in dem Sommer vor 20 Jahren, aber eine nicht weniger schöne.
Nach einer Weile erschien Milo im Türrahmen des Schlafzimmers und Etienne unterbrach sein Stück. Milo hatte sein weißes Hemd wieder übergezogen, aber es war schief geknöpft und seine Haare standen in alle Richtungen ab und er wirkte nun viel mehr wie der Junge, der er einst gewesen war.
„Tut mir leid, habe ich dich geweckt?", fragte Etienne und beendete sein Klavierspiel. „Alles gut, keine Ahnung, wann ich das letzte Mal so schön geweckt worden bin. Außerdem muss ich gleich los." „Und wenn du es nicht tust?"
Etienne erhob sich von dem Hocker und ging um sein Klavier herum. Milo sah ihn nur fragend an. „Was ist, wenn du bleibst? Sagen wir, für die nächsten 20 Jahre?!"
„Und was ist, wenn mir das nicht reicht? Was ist, wenn ich für immer bleiben will?"
„Dann bleibst du für immer", sagte Etienne grinsend. Etienne legte den Kopf leicht schief und Milos Hand wanderte in dessen Nacken und zog ihn ein Stück zu sich, bis ihre Lippen sich trafen. Erst war es ein vorsichtiges Herantasten, doch kaum dass ihre Zungen den Weg in den Mund des anderen gefunden hatten, war da ein ganzes Feuerwerk an Emotionen, was in den beiden Männern tobte.
Etienne legte Milos Hand auf seine Brust und seine auf die des Älteren. „Spürst du das? Sie schlagen immer noch im selben Takt."
DU LIEST GERADE
Die Melodie des Sommers
RomanceEin Sommer in Italien Ende der 80er Jahre. Der 18-jährige Etienne muss seine Sommerferien, gegen seinen Willen, in einem Jugendcamp an der Adria verbringen. Alles, was er sich wünscht, ist, dass die sechs Wochen schnell vorbeigehen mögen, doch dann...