6 - Denken

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Helles, gelocktes, erst gerade nachwachsendes Haar, eine breite Nase und ein Paar dunkler Knopfaugen. Das Schaf lief ihr hinterher, während sie sich bewegte. Auf und ab. Herumliegendes Stroh raschelte unter ihren nackten Füßen, die immer weiter über festgetretene Erde gingen, als spürten sie die kleinen Steinchen nicht. Die Apathie in der sie wie eine Schlafwandlerin benommen durch eine Welt geglitten war, in der sie nicht mehr hätte sein sollen, war vorüber. Nun rauschten Gedanken in ihrem Kopf. Sie strömten so wild als wäre der unterirdische Fluss, der Strom der sie hatte ertränken und in finstere Tiefe ziehen sollen, in ihren Verstand gerutscht.

Ihre Lippen waren zu schmalen Linien gepresst, ihre Miene eine einzige verzerrte Maske irritierter Empfindungen. Sie wusste nicht, ob sie verwirrt, verunsichert oder sogar wütend sein sollte. Irgendwie kam es ihr so vor, als hätte man sie betrogen. Als hätte man ihr die Ruhe genommen, die Flucht in ein friedliches Nichts. Ein Dieb hatte ihr den Tod gestohlen und sie wusste nicht warum.

Ein Knurren glitt über ihre Kehle als sie dem aufgeregt hinter ihr wackelnden Schaf erneut ausweichen musste. Ständig stand es ihr bei den Drehungen im Weg. Das breite vor ein paar Tagen wahrscheinlich erst geschorene Tier blökte, trippelte aber auch schon auf der Stelle und setzte direkt wieder die Verfolgung an. So wie es hinter ihr her trottete, ließ es das Bild ihrer umtriebigen Verzweiflung fast lächerlich erscheinen. Eine Tote in dreckigem übergroßen Hemd, mit ebenso verschmutzen Beinkleidern, aufgelöstem, wildem Haar, mit einem Schaf das ihr folgte als hätte es seine neue Bestimmung gefunden.

Der Rest der Herde sah träge dabei zu. Wartend wohl, wann sie die Beherrschung verlor und den aufdringlichen Verfolger zu Schinken verarbeitete. Im Moment richtete sich ihr krumm wachsender Zorn allerdings in erster Linie auf die unsichtbare Macht, die sie ins Leben zurückgeholt aber dann gänzlich allein gelassen hatte. Es wäre einfach gewesen, das Schaf zu treten und jeden Frust an dem Tier auszulassen.

Dass sie es nicht tat, hatte nichts mit einer tief verwurzelten Gutherzigkeit zu tun. Auch nichts damit, dass der schlaksige Sohn der Bauernfamilie nur ein paar Schritte entfernt stand und sie während seiner Arbeit, Säcke voller Wolle zu schleppen, immer wieder neugierig beobachtete. Dieses Schaf – so unsinnig fehlplatziert es auch war – erschien ihr auf eigenartige Weise wie ein Kamerad. Eine Nähe die sie gerade nicht um sich haben, aber auch nicht verlieren wollte.

Eine Stimme drang an ihre Ohren. Dumpf und übertönt von dem Fauchen wirrer, durcheinander springender Gedanken in ihrem Kopf. Erst als sie es noch einmal hörte, sah sie auf und suchte den Ursprung. Es war der Junge, der sie angesprochen hatte. Der schmale Kerl, der selbst ein bisschen aussah wie ein Schaf. Sein Haar war ganz genauso hell und lockig und seine dunklen Augen standen auf ähnliche Art weit auseinander. Sogar die breite Nase passte, wenn sie auch heller war, als im Gesicht des Tieres.

„Breb!", wiederholte er, was sie eben nicht verstanden hatte. „Ihr Name ist Breb." Er deutete auf das wackelnd, hinter ihr gehende Schaf. Sie blieb stehen, sah herunter und das Tier boxte gegen ihr Knie, ehe es ebenfalls inne hielt und nun scheinbar selbst verwirrt zu ihr aufsah. „Sie mag dich.", erklärte der Junge vergnügt. Er schob den Sack von seiner schmalen Schulter, ließ ihn hinten zu den anderen auf die Kutsche fallen und trat dann näher auf das ungleiche Paar zu.

„Mein Name ist Brunjo!", erklärte er dann beinahe stolz. Er blieb mit etwas Abstand stehen und faltete die Finger, um sie nervös vor sich zu verknoten. „Wie... Wie heißt du?"

Falten erschienen auf ihrer Stirn. „Mein Name?" Noch immer war ihr Stimme von frisch erwachtem Krächzen begleitet. Sie zögerte in der Antwort. Ihren Namen hatte man auf viele Arten auf der Zunge getragen. Es war, als müsse ihre Stimme Anlauf nehmen, ehe sie sich über ihre Lippen wagte.

„Ioanne."

Er lachte glücklich. Keine Anzeichen der Angst, der Nervosität oder gar Bewunderung. Wobei sie ohnehin nicht davon ausging, dass es noch viele geben würde, die zu ihr aufgesehen hätten, nach ihrer letzten Tat und der darauffolgenden feigen Flucht. Ihrer vereitelten... gestohlenen Flucht. Sie hätte den Tod verdient gehabt. Dessen war sie sich sicher. Was auch immer hier vor sich ging. Eine Rettung war es nicht. Rache?

„Welches Jahr haben wir?", fragte sie dann, nun, da ihre Stimme bereits begonnen hatte sich schwingend durch die Luft zu bewegen. Sie hatte eine Theorie. Eine unmögliche. Eine absurde. Doch es war die Beste, die ihr in den Sinn kam, auch wenn sie nur eine ihrer Fragen klären würde.

In der missverstandenen Annahme ein persönliches Gespräch und ein Kennenlernen zu führen, erklärte Brunjo eilig: „Achtzehn!"

Man sagte Schafen nach, nicht die weisesten Kreaturen zu sein. Sanft, schwach und dumm. Der Junge ähnelte ihnen mehr und mehr. Achtzehn... was hatte sie getan, als sie achtzehn gewesen war? Sicherlich nicht in Ruhe und Frieden im Stall der Eltern gearbeitet. Sie war bereits jünger gewesen, als sie das erste Leben nahm. Damals zumindest war es rechtens gewesen, jedenfalls für sie. Nach seinem Alter hatte sie aber nicht fragen wollen.

Sie schüttelte den Kopf. „Das meinte ich nicht."

Ehe sie dazu kam ihre Frage zu wiederholen, geschah etwas mit dem Gesicht, dass ihr eben noch so unschuldig erfreut entgegen geblickt hatte. Die rosige Farbe eines gesunden jungen Mannes, verflog hinter dem hellen Flaum und Panik glitt in seinen Blick.

„Siebzehn!", verbesserte er sich plötzlich laut und hektisch. Fast stolperte er über die eigene Zunge.

„Nicht achtzehn! Siebzehn!"

Neben ihr kaute das Schaf knirschend auf etwas, das es vom Boden aufgesammelt hatte. Aber darauf achtete sie nicht. Auch nicht mehr auf den Wirbel in ihrem Kopf. Irritiert verengte sie die Augen. Dann drehte sie sich um die eigene Achse, als das eigentlich bereits geöffnete Tor am Eingang der Scheune ratterte.

Die Bäuerin war wieder erschienen, verfolgt von ihrem Mann. Beide atmeten sie so schwer als hätten sie einen Sprint hinter sich. Die Frau strich über ihren Rock und schob ein Paar helle Locken hinter ihr Ohr. Sie lächelte falsch. Nicht bösartig oder hinterhältig. Es war die Art zu Lächeln, wie es die Schwachen taten, wenn sie sich darum bemühten den, den sie für stärker hielten zu beruhigen. Ioanne hatte es häufig genug gesehen, aber auch ebenso häufig selbst auf die Lippen gezogen wie eine Maske.

Das Lächeln hielt noch ein paar Augenblicke, dann bemerkte sie die Miene ihres Sohnes.

„Ich... Ich bin siebzehn...", stammelte er verwirrt, als wäre er sich doch nicht mehr sicher.

Sie schnappte nach Luft. Dann riss sie den Kopf herum und sah der fremden Frau in ihrem Stall mit Schrecken entgegen. Zumindest so lange, bis sie einen Schritt vor stolperte und auf die Knie fiel. Ihr Kopf senkte sich hastig dem Boden entgegen.

Ioanne stolperte überrascht rückwärts. Diesmal folgte das Schaf ihr nicht.

„Bitte!", keuchte die Frau am Boden. „Bitte! Es war ein Fehler... ein Missverständnis. Ich weiß wir hätten es bereinigen müssen und uns direkt melden aber..." Sie schnappte nach Luft während sie sich an ihren Worten beinahe verschluckte. „Er ist doch mein Sohn, mein kleiner Junge. Und er ist nicht stark wie die anderen. Sein Kopf ist... er ist so langsam. Er hätte es nicht überlebt, wenn ihr ihn geholt hättet. Ich bitte Euch Herrin, verzeiht dieser Mutter. Mein Junge ist ein Schäfer, kein Soldat!"

Die Legenden alter LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt