Ihr war nicht ganz klar, was sie erwartet hatte, doch respektvoll und behutsam, waren sie nicht mit ihr umgegangen. Zornig darüber, dass sie ihnen den weiteren Weg hinter den anderen beiden her, zerstört hatte, fassten sie die Heldin von vor hundert Jahren ausgesprochen grob an. Immerhin schienen sie nicht dieselbe Ehrerbietung zu besitzen, wie sie ihr bisher begegnet war. Beinahe war das erfreulich.
Sie fesselten ihr die Hände auf dem Rücken, um ihr weitere Zauber zu erschweren. Allerdings dürften sie zuvor gesehen haben, dass Ioanne unüblicherweise, ihre Hände dazu gar nicht unbedingt benötigte. Sich zur Wehr zu setzen, gehörte aber auch gar nicht zu ihrem Plan. Soweit man das, was sie tat, überhaupt als Plan bezeichnen konnte. Eigentlich wusste sie nicht, was sie tat. Sie folgte einem Impuls, der sehr wahrscheinlich keiner ihrer besten war. Doch immerhin war es beinahe der erste, den sie wirklich selbst, aus eigener Überzeugung verfolgte, seit man ihr alle Kontrolle durch die Vorenthaltung ihres Todes genommen hatte. Ihre Entscheidung nach Lutejan zu gehen, war mehr eine Frage gewesen als ein Entschluss. Eine Suche. Das hier war etwas anderes.
Mit verbissenem Kiefer ließ sie sich führen. Herab von den Dächern, über die sie so rasant gejagt worden waren. Fort durch die Gassen und Straßen, auf denen ihnen neugierige Blicke folgten. Sie fühlte schon wieder Erschöpfung durch ihren Körper rauschen, insbesondere, nachdem sie einen derart großen, konzentrierten Zauber durchgeführt hatte. Dennoch stand sie aufrecht und gerade. Ihr Blick unablässig nach Vorn gerichtet.
Sie brachten sie gezielt zu einem gewaltigen Gebäude. Ob es sich mitten in der Stadt befand oder eher am Rand, konnte sie nicht sagen. Damals war sie nur einmal selbst in Lutejan gewesen und seit dem, hatte die Stadt sich ohnehin gänzlich neu entwickelt. Nur kurz ließ sie den Blick seitlich schweifen. Gepflegte Bäume säumten den Weg wie in einem großen, angelegten Garten. Das Gebäude selbst, auf das sie zuhielten, ähnelte einem Tempel. Doch es musste erst nach der Vernichtung gebaut worden sein. Womöglich sogar selbst hier, vor noch gar nicht allzu langer Zeit. Große Säulen stützten einen Eingang. Alles war weiß und schien das Licht des inzwischen höher geglittenen Mondes in sich aufzufangen. Sauber, geordnet und prachtvoll. Nicht zu ausartend oder durch überflüssige Verzierungen geschmückt, wie es damals oft Mode gewesen war. Dennoch beeindruckend durch die reine, überragende Größe.
Zwei ihrer begleitenden Stadtwächter, eilten voraus. Wohl um sie anzukündigen. Ioanne fühlte unwillkürlich, wie sie sich anspannte und ihr Herzschlag durch ihren Hals in ihren Schädel zu wandern schien.
Sie brachten sie in einen ausladenden Saal. Auch hier war alles weiß und sauber. An den Wänden plätscherten kleine Wasser. Künstlich angelegte, Wasserfälle und schmale, gezielt gelenkte Bäche in hellem, massivem Gestein. Über ihr tanzten Lichter an der Decke, die verzaubert sein mussten, denn sie wippten von ganz allein, ohne jede Halterung. Schwingende kleine Sterne, die alles mit ihrem Schein erfüllten und ihr feinen Finger über schlanke, glatte Säulen streicheln ließen.
Ioanne wurde los gelassen, die Fesseln blieben, doch man schob sie nicht mehr in grober Ungeduld vor sich her. Sie sah sich um. Zumindest bis Schritte zu hören waren und ihr Blick mehr suchend, als betrachtend wurde. Eine Gestalt in langer heller Robe näherte sich. Ihrer Form nach eine Frau, doch ein weißer Schleier verdeckte ihr Gesicht. Sie trug einen goldenen Kranz auf dem Kopf, der den Schleier zu halten schien. Alles an ihr, war wie das Gebäude. Fremd, sauber, erhaben, aber schlicht.
„Lasst sie frei", forderte die Frau. Ihre Stimme besaß etwas, das Ioanne noch nie zuvor gehört hatte. Dennoch erkannte sie sie sofort. Ihr Atem beschleunigte sich und Gefühle rauschten durch ihren Leib, so dass es sie erbeben ließ und ein unruhiges Flüstern durch die Gelassenheit der Umgebung schnitt.
Kaum, dass ihre Hände frei waren, zog sie sie wieder vor sich und rieb sich die aufgeriebenen Handgelenke. Vor ihr erkannte sie trotz der Maske, dass die Frau verärgert zu sein schien.
„Meia", zischte Ioanne leise. Sie wusste nicht, wie sie sich fühlen sollte. Wütend? Entsetzt? Verunsichert? Hier waren sie, standen sich gegenüber. Einhundert Jahre später, jedenfalls für eine von ihnen. Für Ioanne, war nun ein Tag vergangen, seit ihre einstige Freundin, sie verraten und ermordet hatte.
„Ich sagte ihr sollt sie gut behandeln, wenn ihr sie findet!", meinte die bekannte Fremde und es schien, als wäre es nicht Ioanne, auf die sich der Ärger in ihrer Stimme bezog. Entschuldigend senkten die plötzlich gar nicht mehr so lauten Stadtwächter die Köpfe. Die Höchste des Rates, sandte sie mit einer Bewegung ihrer Hand fort. Dann standen sie eine Weile einfach nur da. Schweigend, wartend. Bis Meia ihre Hand hob und den Kranz mit Schleier von ihrem Kopf herab nahm. Sie war älter geworden, reifer. Nicht sehr viel und noch immer jung, obwohl sie es nicht sein durfte.
„Es ist lange her", hauchte sie sanft und ein weiches Lächeln strich über ihre Züge.
Ioanne spannte die Schultern an. Ihr Kiefer knirschte und auf ihre Augen glitt ein dunkler Schatten. Meias Freude schwappte wieder fort. „Ah", meinte sie wie überrascht. „Das ist wahr, für dich wohl nicht."
„Ich dachte du wärst tot. Dass ich dich unter Trümmern begraben hätte." Sie hatte es nicht vor, doch Ioannes Stimme flüsterte die Worte nur leise hauchend.
„Keine Sorge, so leicht war ich schon damals nicht zu verletzen", antwortete Meia, noch immer so unbeschwert als wäre dies nichts weiter, als ein Treffen alter Freunde, nach langer Zeit getrennter Wege. „Und von deinem Tod war ich ebenfalls überzeugt. Bis ich herausfand, dass Kenaen tatsächlich an Keelies bemerkenswerte Kette kam und es irgendwie geschafft hat, sie zu aktivieren. Er war schon immer so schrecklich einfallsreich. Wenn sie noch etwas Zeit gehabt hätte weiter daran zu basteln, hätte es vielleicht eher funktioniert und ich hätte sicher sein können, dass du wieder kommst. So war es nur ein Versuch, zumal niemand wirklich wusste, wo du eigentlich warst. Ich habe ihm die Kette gelassen und dieser kleinen Familie, die er gründete." Sie stockte und schüttelte abschweifend den Kopf. „Hättest du je gedacht, dass jemand, der so stoisch ist wie er, eine Frau finden könnte, die ihn erträgt? Aber Schluss mit seiner Geschichte. Ich hatte immer ein Auge darauf, ob sich doch etwas tun würde. Sie waren so überzeugt, da wollte ich es auch sein. Denn ich war erleichtert. Ehrlich. Dich zu verletzen war... das wollte ich nicht. Und als ich dann erfuhr, dass es eine Hoffnung gab, du könntest zurückkehren..." Sie breitete die Arme aus und seufzte seelig.
„Willkommen zurück Ioanne. Ich habe lange auf dich gewartet."
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Die Legenden alter Lügen
FantasyFür gewöhnlich blieben jene die starben, auch tatsächlich tot. So sah auch sie es immer - die Hexe die das Land ins Chaos stürzte als sie entschied sich aufzulehnen. Sie starb einsam und frierend voller Reue. Oder zumindest ging sie davon aus, denn...