28 - Die Gründe eines Jahrhunderts

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Zufrieden blickte ihr ein Gesicht entgegen, dass noch immer dasselbe und doch ein ganz anderes war.

„Konntest du bereits sehen, was ich für dich errichtet habe?" Eine kindliche Aufregung lag in Meias Stimme.

„Die Statue?"

Meia gluckste. „Oh, die auch. Aber das meinte ich nicht. Folge mir." Damit drehte sie sich, wandte ihr den Rücken zu und ging in rauschender Robe voran. Irritiert sah Ioanne ihr nach, ehe sie sich selbst in Bewegung setzte. Es war surreal, es war absurd. Sie kam sich vor wie ein Geist. Nahezu schwebend. Der Boden hallte unter ihren Schritten und schwappte gegen die hohen Wände. Meia bewegte sich schnell, keinen Moment lang hielt sie inne oder sah zurück. Als wäre sie sich mit jeder Faser ihres Seins gewiss, dass sie ihr folgen würde, ganz gleich wohin sie ging.

Eine kleine Ewigkeit verflog in Momenten. Dann ließ Meia eine breite Tür vor ihnen aufschwingen, und als sie heraus traten, blickten sie vor sich auf das ausgebreitete Bild der Stadt herab.

„Das meinte ich", fuhr Meia fort, wo sie geendet hatte. „Ich habe es weiter geführt. Und unter deinem Namen, konnte eine neue Welt erblühen. Bis an die Grenzen und noch viel weiter hinaus." Sie drehte sich rauschend herum und streckte in begeistertem Schwung die Arme nach ihr aus. Ioanne schlug die Berührung von sich, und ließ Meia überrascht zurück stolpern.

„Du hattest mich getötet, wozu musstest du meinen Namen stehlen und Lügen verbreiten über falsche Legenden?"

Irritiert sah Meia ihr entgegen. „Lügen? Ich habe getan was notwendig war. Erinnerst du dich nicht mehr daran, wie du meintest, wir müssten die alten Schriften für uns behalten? Menschen sind Schafe. Ganz gleich ob Hexe oder nicht. Sie geraten durcheinander und verlieren ihren Weg, wenn die wenigen, die darüber stehen, sie nicht vor ihrer eigenen Dummheit beschützen und die Wölfe aus dem Weg räumen, die ihnen gefährlich werden könnten." Wieder breitete sie die Arme aus. Diesmal, um auf die Stadt zu deuten und auf alles darüber hinaus. „Nachdem du fort warst, gab es niemanden mehr, der sie richtig geführt hätte. Ich wollte es versuchen, aber ich konnte es nicht. Ich bin nicht so stark wie du Ioanne. Ich kann Menschen nicht anführen, inspirieren oder begeistern. Mir fehlen die Worte dazu, und das Herz. Also musste ich dich zurückholen, irgendwie. Du hast auch Geschichten benutzt. In deinen Geschichten hast du anderen Angst gemacht. In meinen Geschichten, hast du ihnen Hoffnung gegeben. Und ganz plötzlich gab es wieder jemanden, dem sie folgen konnten. Auch wenn es nur die Figur einer Legende war. Wir haben das gesamte Reich neu erschaffen, nachdem wir alles niederbrannten, ganz ebenso wie Lutejan. Wir haben es sauber gemacht und von den Meistern befreit, von allen Resten der Tyrannei."

Ioanne wich weiter vor ihr zurück. Der Wind blies von der Stadt herauf in ihren Nacken, doch nicht das war es, das einen Schauer über ihre Haut fahren ließ. Es war die Stimme und etwas in dem Wahn, der durch diese einst vertrauten Augen glitt.

„Und deine Herrschaft ist besser?"

Meia hob die Augenbrauen, als wäre sie von dieser Frage mehr überrascht als von allem anderen.

„Natürlich!", meinte sie in völliger Selbstverständlichkeit. „Außerdem herrsche ich doch gar nicht richtig. Der Hexenrat herrscht. So wie du es damals geplant hast. Ich bin nur hier um zu... leiten und dafür zu sorgen, dass alles auf dem richtigen Weg bleibt. Dass alles nach den Regeln spielen."

„Nach deinen Regeln."

„Sie sind gut. Sie bringen Ordnung. Alles, was zu einer Gefahr für diese neue Zukunft werden würde, wird erstickt. Ich weiß, dass du mit Kenaens verbliebenen Möchtegern Rebellen unterwegs warst." Seufzend schüttelte sie den Kopf. „Er hatte kein Verständnis für meinen neuen Weg und irgendwie scheint er es an seine nachfolgenden Generationen weitergegeben haben. Sie wollen den Krieg beenden und behaupten es würde das Land ruinieren. Aber dieser Junge... wie heißt er... Rikkon. Er ist ein Deserteur und ein Unruhestifter. Flink wie eine Ratte. Jetzt da du wieder da bist und Kenaens Blut die Aufgabe mit der Überwachung der Kette beendet hat, kann ich das vollständig beseitigen."

Wieder wich Ioanne zurück. Diesmal stieß sie mit dem Rücken an das Geländer.

„Du willst sie töten?"

Meia seufzte. „Ich verstehe, dass das alles etwas viel auf einmal ist. Uns lange erhofftes Wiedersehen, sollte wirklich nicht von solchen Notwendigkeiten überschattet werden." Erneut bewegte sie sich auf sie zu und streckte die Arme aus, um sie zu berühren. „Lass uns erfreulichere Dinge besprechen. Das Jubiläum deines Sieges steht kurz bevor."

Schnaubend packte Ioanne die Hand, die nach ihr greifen wollte und hielt sie von sich fern. Ihr Stimme zitterte und Funken sprangen in ihren Augen.

„Du hast mich verraten Meia! Du hast mir deine eigenen verdrehten Wahrheiten präsentiert und mich immer wahnsinniger werden lassen!"

„Alles das ich wollte, war dein wahres Potenzial zu erwecken. Du hast immer so getan, als wärst du unnachgiebig und streng, aber du bist so unglaublich sanft. Versteh mich nicht falsch, das ist wundervoll! Nur hätte es dich anfällig gemacht für die Lügen anderer. Und desto wütender du wurdest, desto mächtiger wurdest du auch. Es war meine Schuld, dass du es herausgefunden hast. Wenn ich schneller gewesen wäre, hätten wir direkt damals, gemeinsam weiter machen können. So musste ich das Säubern und Befreien alleine weiterführen. Aber jetzt, nachdem du da bist..."

Endlich brachte Ioanne die Worte auf, um sie zu unterbrechen.

„Das Land mit einem Massaker zu überziehen, kannst du nicht als Säuberung bezeichnen!" Ihr Atem ging schwer. Sie verstand nicht was genau geschehen war. Meias Worte waren belegt von einem Wahn und einer Art, als wäre sie längst selbst in einer erfundenen und zurecht gebogenen Geschichte versunken. „Oder es nach Einhundert Jahren immer noch weiter zu führen."

Nun erhob sich doch auch Meias Stimme, die bisher so sanft und ruhig gesprochen hatte.

„Denkst du denn ich wollte das? Dass es mir Freude bereitet hätte? Es war schrecklich! All diese grausamen Dinge, die ich tun musste. Aber ich musste sie tun! Es darf nie wieder geschehen und nur so kann ich alle beschützen, jedes weitere Leid verhindern! Wenn jeder tut, was ich will und wenn wir auch noch den Rest des Kontinents befreit haben von den Unterdrückern, dann wird diese Welt so friedlich und wunderschön sein. Warst du nicht auf den Straßen? Hast du nicht gesehen, wie harmonisch es war?"

„Wenn jeder tut was du willst? Weil du sie tötest, sobald sie sich gegen deine Überzeugungen wenden und nicht mehr nützlich für dich sind? Das macht dich zu einer Unterdrückerin!"

Keuchend schnappte Meia nach Luft. Getroffen und entsetzt von dem Vorwurf.

„Wieso so lange? Wie konntest du einhundert Jahre weiterleben?"

Meia blinzelte. Sie schien verwirrt durch den Widerspruch und antworte ihr nicht sofort. Aber dann beruhigte sie sich wieder und die apathische Freundlichkeit kehrte zurück.

„Das ist eine bessere Frage. Und eine, die ich dir ohnehin noch zeigen wollte. Folge mir wieder."

Erneut wandte sie sich herum. Diesmal verließ sie den Balkon und führte Ioanne weiter in die Tempelanlage hinein.

Die Legenden alter LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt