18 - Gesucht, Gefunden und Verloren

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Nach allem, das Rikkon inzwischen von ihr gehört hatte – nicht die offiziellen Erzählungen, das andere – hätte er eigentlich davon ausgehen sollen, dass sie Probleme machen würde. Doch während er ihr nachgelaufen war, hatte sie so verloren, so gehetzt gewirkt. Ihr lauernder Angriff war bereits überraschend gekommen. Dass sie sich dann derart widersetzen würde, noch mehr.

„Natürlich muss ausgerechnet ich der widerspenstigen Hexe der Geschichte nach laufen", knurrte er leise während er sich durch die Menge drückte. Womöglich war eine Person, die beinahe aus dem Nichts eine Rebellenarmee aufstellte, einfach von Natur aus paranoid. Insbesondere, wenn sie wahrscheinlich gerade erst ihren eigenen Tod erlebt hatte. Sein Mitgefühl hielt sich dennoch in Grenzen. Dafür stand zu viel auf dem Spiel.

Fluchend reckte er den Hals, um über die Menge hinweg spähen zu können. Rikkon war groß und überragte die meisten der um ihn rauschenden Menschen. Dennoch gelang es ihm nicht die schlanke, kleinere Gestalt der Hexe auszumachen.

„Scheiße!", stöhnte er laut genug, dass ein paar Passanten neben ihm irritiert das Gesicht verzogen und kurz langsamer wurden um ihn tadelnd zu mustern. Eilig ging er weiter.

So weit konnte sie nicht gekommen sein. Sie war davon gesprungen als wäre sie auf der Flucht. Doch wohin sie fliehen sollte, würde sie nicht wissen. Wenn er sich beeilte und aufmerksam blieb, könnte er sie womöglich schnell wieder aufsammeln, ehe sie in Probleme geriet und die Aufmerksamkeit der Gendarmen oder Soldaten auf sich zog. Und dass sie in Probleme geraten würde, das bezweifelte er keinen Augenblick.

Mit der Kette hätte er sie schneller finden können. So wie zuvor schon. Die Kette funktionierte – soweit es Ioanne anging – wie ein Pendel. Er hatte nur der Richtung folgen müssen, in die der Stein ihn so eifrig gezogen hatte. Dass sie bei der erst besten Gelegenheit verschwinden würde, war ihm nicht klar gewesen. Denn dann, hätte er sich von den zurückgehaltenen Tränen in den Augen nicht dazu verleiten lassen, das verdammte Ding so einfach in ihre Hände abzugeben.

Er war nie ernsthaft davon ausgegangen, sie wirklich eines Tages anzutreffen. Die Wiedergeburt einer Gestalt, deren Abbild jede Stadt des Reiches zierte. Vielleicht hatte er sich zu sehr an den stoischen, stillen Ausdruck der Statuen gewöhnt, so dass ihn die überschwappend emotionalen Reaktionen des wirklichen Menschen irritierten. Es ärgerte ihn. Mehr und mehr, je länger er nach ihr suchte und die Straßen durchkämmte. Sie könnte überall sein und er hatte keine Ahnung, wie er die Frau einschätzen sollte, die einhundert Jahre vor ihm gelebt hatte.

Würde sie der Menschenmenge folgen und sich treiben lassen, in der Hoffnung irgendwo das Ziel anderer zu ihrem eigenen machen zu können? Oder würde sie bei der nächstbesten Gelegenheit wieder in die Einsamkeit der schattigen Gassen tauchen, um mit sich, ihren Gedanken und ihren Erinnerungen allein zu sein? Normalerweise war Rikkon recht gut darin andere einzuschätzen, doch mit der Hexe, die auf die eine oder andere Art zu einer Legende erhoben worden war, fiel ihm das schwer. Sie war jünger als er. Nur wenige Jahre zwar, aber das hatte er gelernt. Dennoch hatte sie älter auf ihn gewirkt. War sie womöglich doch nicht direkt in jener Nacht ganz heimlich und verloren irgendwo verstorben? Hinein gekrochen in ein Loch, um ihre Wunden zu lecken und dabei ganz einfach nicht mehr aufzuwachen? Was wenn sein Urgroßvater sich geirrt hatte und sie doch weiter geflohen war. Wenn sie überlebt hatte. Zumindest ein paar Jahre noch, ehe sie doch irgendwo ganz unbemerkt starb und der Zauber des eigenartigen Amuletts erst da nach ihr griff. Dann aber wiederum, passten einhundert Jahre fast zu gut, als dass es nicht doch irgendwo zusammen gehören musste.

Rikkon hatte sich dazu entschieden nach einem möglichen Pfad zu suchen, der einsam und doch nicht ganz in Stille war. Eine Seitenstraße war ihm aufgefallen, die sicherlich auch von ihr bemerkt worden wäre. Allerdings die dritte dieser Art inzwischen. Menschen, um sich zwischen ihnen zu verstecken. Aber auch genug Lücken und desinteressierter Abstand, um für sich selbst zu bleiben ohne angerempelt oder gar in ein Gespräch verwickelt zu werden.

Womöglich war sie in eines der Häuser gegangen. Hatte jemand sie hinein gebeten? So misstrauisch wie sie bereits ihm gegenüber gewesen war, konnte er sich das aber nicht vorstellen. Sie hatte Krieg geführt und damit angefangen noch ehe sie wirklich erwachsen gewesen war. Was, wenn sie sich einfach selbst zutritt verschafft hatte und momentan grimmig in einem Esszimmer saß, während die eigentlichen Bewohner eingeschüchtert in einer Ecke kauerten.

Wie hatte sie nur so gut darin sein können einfach zu verschwinden. Für einen Augenblick war er geblendet gewesen, doch danach war er ihr sofort gefolgt. Als hätte der Erdboden sie verschluckt. Und wenn es genau so gewesen war?

Ein kleiner Tumult etwas weiter vor ihm, die Straße hinunter, riss ihn aus seinen Überlegungen. Ein Mann war durch die Tür einer Bar rückwärts hinaus gestolpert. Nun richtete er sich schwerfällig grunzend vom staubigen Boden wieder auf. Er blutete aus der Nase und trug betrunkenen Zorn im Blick. Ungewöhnlich war das nicht. Abends wäre es zwar üblicher gewesen als Nachmittags, doch grundsätzlich kamen Prügeleien überall nur allzu häufig vor. Das allein, ließ Rikkon nicht sofort aufhorchen. Erst als der Kerl grimmig knurrte: „Verdammtes Hexenbiest!", und entschlossen wieder zurück ins innere der Bar stapfte, weitete sich der Blick des Suchenden etwas mehr.

Von Innen konnte er toben und brüllen hören. Dinge die zu Bruch gingen. Holz wie Glas.

Als er sich durch eine rasch gebildete durch den Eingang spähenden Traube an Schaulustigen gekämpft hatte, sah er das Schlachtfeld. Ein paar Tische waren umgekippt und noch schäumendes Bier schimmerte im fahlen Licht auf den Dielen. Zwei Männer saßen am Boden. Der, der nach draußen geflogen war, stützte sich an einem Stuhl und beobachtete knurrend, was auch Rikkon bemerkt hatte.

Eine Frau – diese Frau – kletterte schwankend und auffallend ungelenk auf den Tresen hinauf. Nervös versuchte eine Kellnerin auf sie einzureden und davon abzubringen, doch Ioanne wischte die Einwände mit einer überschwappenden Flasche Schnaps in ihrer Hand einfach fort. Taumelnd erhob sie sich auf ihrem Podest. Ihre Augen glänzten und ihre Haltung hing irgendwie etwas schief.

Bei allen Göttern... war sie betrunken? Er hatte sie höchstens drei Stunden gesucht. Eher weniger. Aber hier stand sie hoch über den anderen und hielt eine Flasche in der Hand, die wahrscheinlich nicht ihre erste war.

„Will sich noch jemand beschweren?", lallte sie und stolperte dann zur Seite. Ganz knapp fing sie sich, nur um ihren vorrübergehend erfolgreichen Stand direkt darauf mit einem weiteren tiefen Schluck zu feiern. „Oder etwas anderes behaupten?" Sie hickste. „Eure Ioanne, war ein Miststück!"

Die Legenden alter LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt