31 - Der Anfang

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Die Welt war nicht besser geworden, nur anders.

Ioanne kam sich noch immer vor, wie eine Schlafwandlerin. Sie erinnerte sich gar nicht mehr genau daran, wie sie wieder unter den freien Himmel gekommen war. Doch als sie den Kopf in den Nacken legte, konnte sie die Sterne sehen. Neben ihr flimmerte der Duft verschiedenster Blumen. Ein paar Blüten, kitzelten sie unter ihren Fingern. Ioanne hatte den dunklen Raum verlassen. Nicht nur sie, denn die Gitterstäbe, hatte sie zuvor zur Seite gleiten lassen. Auch die Wachen waren ihnen nicht lange im Weg gewesen. Zwei. Eine Frau und ein Mann. Beide Hexen, die sich mühsam herein gearbeitet hatten, nur um dann ihre Herrin leblos am Grund liegen zu sehen. Sie hatten sich ihnen nicht in den Weg gestellt, aber sie hatten sie auch nicht begleitet. Wirklich, Ioanne wusste nicht, was in dieser Welt vor sich ging. In dieser Zukunft.

Neben ihr lag ihr Abbild. Die hohe, heroische Marmorgestalt. Ohne zu wissen, was sie sonst hatte tun sollen, war sie zu ihr zurückgekehrt. Nun stand der Sockel abgebrochen hinter ihr und die große Gestalt lag am Boden. Ihr Kopf hatte ein großes, laut knallendes Loch am Boden hinterlassen. Womöglich wäre jemand gekommen und aus einem der umherstehenden Häuser gestürmt, um anzusehen, was vor sich ging. Doch die meisten hatte es vorher schon davon getrieben, als die Nachricht über den brennenden Tempel durch die Straßen geschwemmt worden war. Am Himmel lag immer noch ein roter Schimmer. Tatsächlich hatte Ioanne nichts zu tun mit dem Feuer. Nicht direkt jedenfalls.

Eine Gestalt näherte sich. Sie sah ihn aus dem Augenwinkel aber drehte sich nicht. Ihr Blick sank von dem Himmel herab auf ihre zwischen ihren Knien gefalteten Hände. Etwas in seiner Hand leuchtete blau.

„War das dein Plan?", fragte Rikkon. Er klang weder vorwurfsvoll, noch erfreut oder wütend.

„Ich glaube, ich hatte gar keinen. War das deiner?"

Er trat näher an sie heran. Der Anhänger pendelte aufgeregt im Kreis. Das Leuchten verschwand, als er ihn wieder in ein Tuch faltete und einsteckte.

„Nein. Aber ich schätze, das war auch eine Art vorzugehen", meinte er und Ioanne konnte wieder nicht genau hören, ob er einen Scherz machte oder einfach nur eine Feststellung in den Raum warf.

„Sie hat jetzt aufgehört, einfach weiter zu leben", meinte Ioanne ohne den Blick zu heben.

Er nickte, sie sah es nicht, aber sie wusste es. „Die wenigsten wussten, dass die Höchste des Rates, seit einhundert Jahren, dieselbe war. Und die, die es wussten, behielten es lieber für sich."

„Sie war nicht böse, sie war nur... verloren. Das waren wir alle irgendwie."

Auf gewisse Weise, war sie ihm dankbar, dass er schwieg, statt sie aufzuklären über all die anderen Dinge, die Meia getan hatte und von denen sie nur noch nichts wusste. Eine Nacht noch wollte sie sich in Ruhe daran erinnern können, wie sie zusammen lachten und fasziniert gemeinsam über den alten Schriften saßen.

Rikkon hob nur die Hand, um auf die umgestürzte Statue der Heldin zu deuten. Einige der hübsch gearbeiteten Rosen waren abgebrochen und lagen zwischen den Pflastersteinen verteilt. Das Schwert hatte der Sturz ebenso auseinandergerissen. Sie lag auf der Seite. Ihr Marmorblick stoisch weiter geradeaus gerichtet. „Und was war das hier?", fragte er.

Schweifend ließ Ioanne ihren Blick über die Gestalt wandern. Sie zuckte mit den Schultern. „Das wollte ich tun, seit ich sie das erste Mal gesehen habe. Und jetzt kam es mir passend vor."

„Die, die sie geschaffen hat ist tot. Er sollte Zeit sein, dass die Heldin stürzt."

Er setzte sich neben sie und schob ein paar der abgelegten Blumen zur Seite. Um sie herum flatterten einige der bunten Banner, die in so viel Vorfreude auf das Jubiläum herauf gehängt worden waren.

„Und was wirst du als nächstes tun?", fragte er.

„Ich weiß nicht. Ich bin keine Sklavin mehr und auch keine Rebellenanführerin. Ich weiß nicht, was ich jetzt bin."

„Also es gibt noch mehrere solcher Statuen hier im ganzen Land", schlug Rikkon vor. „Oder du entscheidest dich doch dafür, noch einmal mit mir zu gehen. Diesmal ohne einen Zwischenstopp in einer Bar oder eine Verfolgungsjagd auf den Dächern."

Nun drehte sie doch den Kopf, um ihn anzusehen. Verwirrt betrachtete sie sein Gesicht.

„Ihr wollt immer noch, dass ich euch helfe?"

„Die Welt ist heute Nacht noch einmal sehr viel komplizierter geworden. Hilfe, könnte jeder gerade gebrauchen."

Stille glitt zwischen sie. Nur wieder der Wind, konnte es nicht lassen zu flüstern und raschelnd an den Blüten zu spielen. Ein Duft verschiedenster Sorten, so eindringlich und präsent, dass es die anderen Sinne nahezu betäubte. Geschenke an eine Geschichte, die gar nie wirklich wahr gewesen war. Nicht vollständig. Eine Fessel, eine manipulative Droge. Aber doch etwas, das viele hatte Hoffen lassen. Selbst jene, die die Wahrheit kannten. Bittersüß.

Rikkon erhob sich wieder. Er ging ein paar Schritte und sah ihr geduldig auffordernd entgegen. Sein Blick schien sie in die Höhe zu ziehen und ihre Beine zu bewegen. Ioanne ging fort und sank hinein in den Schatten zwischen den Häusern. Diesmal verschwand sie nicht wie ein fort geblasener Nebel. Diesmal zog sie sich nicht zurück, um allein zu sein und ihr Leben durch ihre Finger tropfen zu lassen.

Der starre Blick ihres steinern Abbildes sah ihr stumpf hinterher, während sie ging um Verantwortung zu übernehmen, statt vor ihren eigenen Taten zu fliehen.

Die Legenden alter LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt