Tragödie

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Alle Gäste drehten sich um, als ein scharfer, durchdringender Schrei die Luft zerschnitt. Auf einmal war es totenstill.
"Wir brauchen einen Heiler!" schrie Maylea.
Nienna brach zitternd zusammen. Legolas hob sie auf seine Arme.
Thranduil stand in der Mitte des Platzes. Er stand nur da, die Augen weit aufgerissen. Was hatte er getan? Er war schuld daran, dass die Frau seines Sohnes gerade unsägliche Schmerzen erlitt!
Unaufhörlich floss Blut zwischen Niennas Beinen hervor.
"Sollte das nicht Wasser sein? Und erst später?" fragte Maltawen hektisch.
Niemand antwortete ihr. Alle waren zu sehr damit beschäftigt, was mit Nienna geschah.
Legolas hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Er streifte mit seinen Lippen kurz Niennas Wange und lief kurzerhand in den Palast. Maylea rannte hinter ihm her. "Bring sie zu Hùor!"
Die stöhnende, blutüberströmte Nienna wand sich in seinen Armen. "Was... passiert?" flüsterte sie.
Maylea holte zitternd Luft, entschied sich dann aber dagegen, ihr mitzuteilen, dass sie gerade ihr Kind verlor. Das war auch nicht nötig, denn eine neuerliche Welle Schmerz überrollte Nienna und sie schrie auf.
Maylea wandte den Blick von ihr ab. Sie hatte Tränen in den Augen. Zu sehr fühlte sie sich an damals erinnert. Wieso war sie überhaupt noch hier, wenn die Geschehnisse sie so sehr mitnahmen?
Die Antwort gab sie sich selbst. Sie wollte einfach nicht, dass Nienna das gleiche widerfuhr wie ihr.
"Oh nein. Eine Fehlgeburt, schrecklich!" rief Hùor, als er von weitem Nienna in Legolas' Armen erblickte. "Schnell, trag sie rein!" Er hielt ihm die Tür zu seinen Räumen auf.
Maylea blieb draußen. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Langsam ließ sie sich an der Wand hinuntergleiten, bis sie auf dem Boden saß.
Sie legte die Arme auf die Knie, bettete ihren Kopf auf ihre Arme und weinte. Wieso hatte sie Nienna nicht bewahren können? Bewahren vor dem Schlimmsten, was einer Mutter passieren konnte; ihr eigenes Kind zu verlieren.
Sie, damals, sie hätte lieber ihr eigenes Leben gegeben als das ihres Kindes zu verlieren.
Auf einmal legte sich ihr eine Hand auf die Schulter. "Was ist los?" fragte eine warme Stimme.
Maylea hob den Kopf. Sie war überrascht, Thranduil zu sehen, denn sie hätte ihm nie einen so fürsorglichen Klang in der Stimme zugetraut.
"Warum kann ich nicht helfen?" fragte Maylea mit brüchiger Stimme. Sie war sich bewusst, dass Thranduil ihr diese Frage nicht beantworten konnte, es war mehr ein Selbstvorwurf.
"Es ist doch nicht deine Schuld." sagte Thranduil. Er schluckte schwer. "Es ist meine."
Maylea schloss die Augen und massierte sich die Schläfen. Wieso konnte sie Thranduil beim besten Willen nicht dafür hassen, dass er dieses Kind umgebracht hatte?
"Vielleicht solltest du es deinem Sohn jetzt sagen."
"Wenn du möchtest, dass er mich umbringt."
"Du wirst dich wohl gegen deinen Sohn verteidigen können."
"Wenn du möchtest, dass ich ihn umbringe..."
Maylea stand auf. "Wie kannst du jetzt noch Witze machen? Es ist verdammt nochmal ernst!"
Thranduil sah sie verständnislos an. "Wieso berührt es dich eigentlich so sehr?"
Maylea schluchzte auf. "Ich kann es dir nicht sagen."
Thranduil sah ihr eindringlich in die Augen, blau in blau. "Du kannst mir vertrauen. Das habe ich dir schon einmal gesagt."
Maylea drehte sich weg und raufte sich das Haar. "Warum kann ich dich nicht einfach hassen? Dafür, was du Nienna angetan hast..."
Thranduil stand nur da, ganz ruhig. "Du bist mein König... eigentlich sollte ich gar nicht..." Maylea schloss die Augen. "Ich will dich hassen, Thranduil. Kannst du bitte etwas tun, damit ich dich hassen kann?"
Thranduil machte einen Schritt auf Maylea zu. Er griff nach ihren Händen, und erst, als er sich sicher war, dass er ihre volle Aufmerksamkeit hatte, legte er seine Lippen vorsichtig auf ihre.
Maylea hielt den Atem an. Sie stand ganz still da, bewegte sich kein bisschen, während sie... von ihrem König geküsst wurde.
"Kannst du mich jetzt hassen?" flüsterte er, als er sich wieder von Maylea gelöst hatte.
Sie biss sich auf die Lippe und schüttelte stumm den Kopf. Tränen rollten abermals über ihre Wangen.
"Tut mir leid..." flüsterte sie und drehte sich auf dem Absatz um und lief in ihr Zimmer. Es herrschte ein zu großes Chaos in ihr.
Kaum war Maylea verschwunden, öffnete sich Hùors Tür. Legolas kam heraus, blass, niedergeschlagen und erschöpft.
"Wie geht es ihr?" erkundigte Thranduil sich besorgt.
"Es sieht nicht gut aus." flüsterte Legolas mit brüchiger Stimme. Wie Maylea zuvor ließ auch er sich an der Wand hinuntergleiten und bedeckte das Gesicht mit den Händen. "Wie kann ein so schöner Tag so fürchterlich enden?"
Thranduil antwortete nicht. Er war in Gedanken bei Maylea. Er musste herausfinden, wieso sie wegen Legolas' und Niennas Kind so niedergeschlagen war...
Die Tür ging auf. Legolas sprang auf. "Wie geht es ihnen?"
Hùor war blass und sah ebenfalls erschöpft aus. "Eurer Frau geht es den Umständen entsprechend gut."
"Und... das Kind?" flüsterte Legolas angstvoll.
Hùor seufzte und schien noch kleiner zu werden. "Ich konnte es nicht retten. Euer Kind ist tot."
Die Worte trafen Thranduil wie ein Schlag ins Gesicht. Soeben war sein Enkelkind gestorben, und er war schuld daran...
Legolas allerdings taumelte zurück. Die Nachricht traf ihn wie ein Pfeil, ein rostiger, spitzer, mit Widerhaken bestückter Orkpfeil mitten ins Herz.
"Kann ich... meine Frau sehen?" fragte er mit gebrochener Stimme.
Hùor zuckte die Schultern und ließ ihn ein.

Der Prinz des Düsterwaldes 2 - Dunkle SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt