Mayleas Geheimnis

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Die erste Etappe ihres Rittes redeten sie nicht. Jeder saß schweigend auf seinem Pferd, Eldarion schlief in Aragorns Armen. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.
Nienna grübelte über ihre "Eltern". Sie hatte sie so sehr und lange vergessen, dass es eigentlich nicht normal sein konnte. Immerhin hatte sie zweiundzwanzig Jahre ihres Lebens bei Èowyn und Faramir verbracht. Nach wenigen Monaten im Düsterwald waren sie vollkommen aus ihrem Kopf verschwunden und erst Aragorn hatte sie daran erinnert, dass auch sie einmal ein Mensch gewesen war.
Komisch. Ihre Eltern hatten sich nicht gemeldet, nicht einmal hatten sie einen Brief geschrieben, sie waren nicht vorbeigekommen... mussten sie nicht denken, dass Nienna immer noch annahm, dass die beiden ihre leiblichen Eltern wären? Wieso hatten sie sich nicht gemeldet? Waren sie etwa...
Nienna musste schlucken. Waren Faramir und Èowyn etwa bei dem Kampf, der der Grund gewesen war, dass Nienna in den Düsterwald gemusst hatte, umgekommen?
Obwohl sie so lange keinen Kontakt mehr zu ihnen gehabt hatte, war der Gedanke unerträglich.
Sie räusperte sich. Seit mehreren Stunden war es das einzige Geräusch, das einer von ihnen machte.
"Aragorn?" fragte sie betont beiläufig.
"Nienna?" fragte er zurück.
Sie zupfte an ihrer Bluse. "Weißt du zufällig, ob ähm... was Faramir und Èowyn so machen?"
Aragorn drehte sich zu ihr um. Sie war die Letzte in der Abteilung, und Legolas ritt als Erster.
"Weißt du das nicht? Soweit ich weiß, haben sie dir jeden Monat mindestens einen Brief geschrieben."
Nienna schaute verwirrt. Aragorn schien etwas einzufallen. "Stimmt, wieso hast du eigentlich nie geantwortet? Èowyn war ganz... aufgeregt. Aber Faramir murmelte ständig etwas von "Thranduil" und der "Wahrheit". Dann habe ich gesagt, ihr beiden, sie hat bestimmt einen Mann kennengelernt und ihr beiden habt schon längst Enkelkinder."
Nienna zog eine Augenbraue hoch.
Aragorn lachte. "Dann waren sie ein wenig beruhigt. Aber ich sollte ihnen auf jeden Fall erzählen, wie es dir geht, wenn ich wieder zu Hause bin."
"Aber wenn sie mir geschrieben haben," hakte Nienna nach "warum habe ich dann nie Briefe bekommen?" Aragorn runzelte die Stirn. "Hast du nicht? Merkwürdig. Ich könnte schwören..."
"Wir sollten hier das Nachtlager aufschlagen." unterbrach Legolas ihn und deutete auf einen wind - sowie sichtgeschützten Platz hinter einer Buschformation. "Ich weiß, es ist noch früh, aber es ist hier ziemlich gut. Und wir sollten Nienna noch nicht überstrapazieren, schließlich hat sie vor kurzer Zeit..." Er räusperte sich verlegen. "Einiges durchgemacht. Naja. Was sagt ihr?"
Aragorn nickte und Nienna schwang sich wortlos von ihrem Pferd.
Stumm banden sie die Pferde fest und legten Matten auf den Boden und zündeten ein Feuer. Aragorn setzte sich wohlweislich mit Eldarion ein wenig entfernt von Nienna und Legolas hin.
Nienna rutschte zu ihrem Mann und legte ihm den Kopf auf die Schulter. Der Schein des Feuers spiegelte sich in ihren grünen Augen. Legolas hob die Hand und strich ihr übers Haar.
"Le melin, nimelos nîn.*" flüsterte er.
(*Ich liebe dich, meine Blume.)
Nienna griff nach seiner Hand und strich mit dem Daumen über seinen Handrücken. Er beugte sich vor, legte eine Hand an ihre Wange und küsste sie auf den Mund. Der Kuss begann zärtlich, wurde jedoch schnell heftiger.
Legolas nahm auch noch seine zweite Hand an Niennas Gesicht, sodass er ihren Kopf in den Händen hielt. Nienna schlang ihre Arme um seine Hüfte und saß somit auf seinem Schoß.
Im Schein des Feuers zog Aragorn, der sie beobachtete, eine Augenbraue hoch.

Die nächsten Tage verbrachten Thranduil und Maylea vor allem mit... Dingen, die Paare eben tun. Schwelgend in ihrem Glück nahmen sie nichts um sie herum wahr außer den Partner.
Und schließlich war Thranduils Bett groß genug für sie beide.
Vier Tage nach dem Aufbruch von Nienna, Legolas und Aragorn wurde Maylea durch ein Klopfen an Thranduils Tür wach. Vorsichtig befreite sie sich aus seinen warmen Armen um ihn nicht zu wecken. Zum Glück hatte sie ein Nachthemd an. Sie wuschelte sich kurz durch die Haare und öffnete die Tür.
Eigentlich war dem Diener keinerlei Reaktion gestattet, aber mit dem Blick auf eine zugegeben sehr durchge...wuschelte Maylea und seinen König, der schlafend und nur mit einer Decke bedeckt im Bett lag, musste er einfach die Augen aufreißen und einen Schritt zurücktreten. "Ich... wollte nicht stören, aber es scheint, als wäre der Prinz verschwunden."
Maylea hatte gerade herzhaft gegähnt und nur die Hälfte davon verstanden, was der Diener gesagt hatte. "Wie bitte?" murmelte sie.
"Es scheint so, als sei der Prinz verschwunden." wiederholte der Diener energisch.
"Was für ein Prinz?" fragte Maylea. Sie schlief noch halb.
"Prinz Legolas! Er ist verschwunden! Weg! Und seine Frau auch!" rief der Diener.
Jetzt war Maylea endgültig wach. "Wie bitte?" rief sie erschrocken.
Der Diener seufzte und setzte zu einer neuerlichen Erklärung an, doch Maylea schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
Sie riss Thranduil unvorsichtig die Decke weg. Da gab es nichts, was sie nicht schon gesehen hatte. "Thranduil!" rief sie. "Legolas ist weg!"
Er rollte sich zusammen. "Wer ist weg?"
"Dein Sohn! Oh nein, meinst du, er ist zum dunklen Wesen aufgebrochen?" Maylea ließ die Decke fallen und schlug sich die Hände vor den Mund.
Thranduil setzte sich langsam auf. "So dumm ist er nicht. Er würde ein solches Risiko nicht eingehen."
Maylea hatte ein leidendes Gesicht aufgesetzt. "Für Nienna würde er alles tun. Wenn sie es wollen würde?"
Thranduil gähnte und zog sie näher an sich. "Er würde sie einer solchen Gefahr nicht aussetzen. Er liebt sie."
"Eben." sagte Maylea und rutschte wieder weg. "Und der Diener hat gesagt, dass er verschwunden ist. Und seine Frau auch! Sie sind zu dem dunklen Wesen aufgebrochen!"
Sie fuhr sich nervös durch die Haare. "Wir müssen ihnen hinterher, Melethron*."
(*Liebster)
Thranduil schwang die Beine aus dem Bett. "Du hast recht. Wir müssen sie davon abhalten, sich selbst solcher Gefahr auszusetzen. Das ist es nicht wert."
Maylea küsste ihn kurz. "Das ist es nicht wert." stimmte sie zu.
"Und schließlich" sagte Thranduil und zwinkerte, "werden sie und wir mit unseren baldigen Kindern genug zu tun haben."
Maylea wurde blass. Thranduil bemerkte es und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
"Hey, das hat noch Zeit. Keine Angst, das war ein Scherz." sagte er entschuldigend.
Maylea rieb sich nervös die Hände auf den Oberschenkeln. "Ja." sagte sie abwesend. Bisher hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben, sich ihm anzuvertrauen, und dies war auch nicht der richtige Zeitpunkt.
"Ist alles in Ordnung? Tut mir leid. Die Bemerkung war blöd." entschuldigte sich Thranduil abermals.
Maylea holte tief Luft. Sie konnte nicht ewig auf einen "richtigen Zeitpunkt" warten.
"Ich muss dir was sagen."
Thranduil sah sie besorgt an. "Alles in Ordnung?"
In Mayleas Augen glitzerten Tränen. Als Thranduil dies bemerkte nahm er sie in den Arm. "Du kannst es mir erzählen."
"Vor ein paar Jahren... hundert vielleicht... hatte ich schon einmal einen Mann."
Thranduil zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts. Er konnte sich gar nicht daran erinnern...
In Mayleas Stimme hörte man schon die Tränen, als sie weitersprach.
"Er... er war nicht nett oder gütig. Aber ich habe ihn geliebt."
Sie holte zitternd Luft. "Und... und dann war ich schwanger. Ich dachte, er würde sich freuen und habe es ihm total euphorisch erzählt, aber er hat mich zu Boden gestoßen, geschlagen und gesagt, wenn irgendjemand das erfahren würde, wäre ich tot." Maylea fröstelte. "Dann lachte er und meinte, es wäre besser wenn ich sowieso tot wäre. In der Nacht hat er mich in den Wald geschleppt und bewusstlos geschlagen. Er dachte, ich sei tot."
Sie versuchte so angestrengt, nicht zu weinen, dass sie beinahe in einem Fort blinzelte. Thranduil saß da wie vom Donner gerührt.
"Ich war es aber nicht. In dieser Nacht habe ich infolge der schweren Verletzungen mein Kind verloren, aber meine Wunden heilten schnell. Nach einer Woche, in der ich beinahe nur gekrochen bin, war ich wieder hier im Palast. Ich habe niemandem erzählt, was passiert war, sagte, ich wäre von Orks angegriffen worden. Sie haben mir geglaubt. Und ich habe ihn seitdem nicht mehr angesehen. Er schien davon auszugehen, ich würde es sowieso niemandem erzählen, was ich ja auch nicht tat. Nur habe ich in ständiger Angst vor ihm gelebt. Aber mit der Zeit wurde es besser."
Thranduil nahm ihre Hände und zog sie an sich. Er hatte keine Worte dafür, was sie ihm gerade offenbart hatte. Es war einfach... schrecklich.
"Aber ich würde niemals etwas tun, was dich traurig macht oder dir weh tut. Das weißt du doch?" flüsterte er leise.
Maylea schluchzte nur. Er strich ihr übers Haar. "Ich würde alles tun, um dich glücklich zu machen."
Maylea nuschelte irgendwas an seiner Brust, dass er als "Wieso?" interpretierte.
"Weil ich dich liebe."
Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. "Und ich werde demjenigen, der dir das angetan hat, soviel Schmerz zufügen, wie du erleiden musstest. Sag mir eins, aras nîn: Wie heißt er?"
Maylea setzte sich auf. "Das nützt nichts. Er ist schon tot. Und er hieß Galdor."

Der Prinz des Düsterwaldes 2 - Dunkle SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt