♕ Victoria - Prolog ♕

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"Spring!", schrie ich aus vollem Hals, schon ganz heiser, doch es war zu spät. Mein eigensinniger Schecke scheute wieder einmal und Marianne flog ohne ihn über das Hindernis. Ihr beiges Reitgewand zeichnete sich grell gegen den strahlend blauen Frühlingshimmel ab, denn diesmal hatte der Hengst sich ein wenig entschiedener seiner Reiterin entledigt als die vorherigen Male. Ich drückte die Daumen, dass sie sich nichts getan hatte, aber ich hatte das Gefühl, dass wir heute keine Fortschritte mehr machen würden. Als ich mir sicher war, dass sie aufstehen konnte, hob ich deshalb die Hand und gab das Signal zum Aufhören.

„Fast wäre er gesprungen, nicht wahr?", krähte meine kleinste Schwester wohlgelaunt, während sie sich den Staub von der Reitbekleidung klopfte. Ich konnte über ihren Optimismus nur den Kopf schütteln. Gerade eben noch hatte sie im Dreck gelegen und jetzt strahlte sie schon wieder über beide Ohren.

„Wenn du mit ‚fast' ‚nie im Leben' meinst, dann hast du Recht", meinte ich mit einer Prise Sarkasmus, nach den Zügeln meines wunderschönen und furchtbar verzogenen Araberpintos greifend. Vom ungewohnten Reiter befreit, war er lammfromm wieder zu mir getrabt und schmiegte sich an meine Schulter. Schnell machte ich einen Schritt zurück, um den teuren Stoff meines moosgrünen Kleides nicht schmutzig zu machen. Unglücklicherweise war ich nicht fürs Reiten gekleidet, sondern für den geplanten Nachmittagstee mit Freunden aus der Hauptstadt.

„Marianne, ich bewundere deinen Ehrgeiz, aber willst du das Springen nicht lieber mit einem folgsamen Pferd trainieren?", fragte ich, darauf bedacht, meine braunen Korkenzieherlocken von seinen Zähnen fernzuhalten.

Meine Schwester fuhr lächelnd über den kräftigen, braun-weißen Hals des Pferdes. „Du hast Recht. Vielleicht bin ich vernünftig und reite morgen auf einem anderen Pferd."

„Du könntest Löwe ausprobieren. Greta hat auf ihm das Reiten gelernt. Finn!" Der Stallbursche nach dem ich gerufen hatte, eilte mir sofort zu Hilfe und ging mit dem schweren Sattelzeug pfeifend Richtung Sattelkammer davon. Ich selbst widmete mich meinem Vollblüter, Akrobat, der auch ohne Zaum in meiner Nähe blieb. Mich über seine Eigenwilligkeit amüsierend, wuschelte ich ihm durch die Mähne. Bereits beim Frühstück hatte ich Marianne beherzt davon abgeraten, ihr Glück mit dem Vollblüter zu versuchen.

„Komm schon, Rob. Es geht nach Hause." Auf meine Worte hin folgte er mir artig in Richtung des Stalls, jedoch nicht ohne hier und dort ein paar saftige grüne Halme abzuzupfen.

Es war ein wunderschöner, sonniger Frühlingstag und die Blätter der Bäume raschelten in der warmen Brise. In der Ferne hörte ich Gebell anschwellen und eine hohe Stimme, die den Hunden Befehle erteilte. Marianne konnte wieder einmal nicht genug von den Jagdhunden meines Vaters bekommen, auch wenn ihr das später eine Rüge einbringen würde. „Komtessen spielen nicht mit den Hunden für die Jagd, sie lernen sticken und nähen. Nur über meine Leiche lasse ich zu, dass ihr komplett verwildert!", hörte ich unsere Gouvernante in Gedanken schon schimpfen. Unwillkürlich musste ich schmunzeln. Ich glaubte nicht daran, dass sie es jemals schaffen würde, meine kleine Schwester zu bekehren.

Am Stall angekommen, schob mir Finn hilfsbereit die Tür auf und ich lächelte ihm zu, bevor ich mit dem Pferd die Stallgasse betrat. Die einzelne Gaslampe an der Decke spendete kaum Licht und ich wäre fast über einen Strohballen am Boden gestolpert, hätte ich nicht eine Hand in seine Mähne gekrallt. Das gefiel ihm nicht besonders und er machte einen großen Satz vorwärts, hinein in seine Box - natürlich nicht ohne sich lautstark zu beschweren. Während ich Rob beruhigende Worte zuflüsterte, schloss ich die Boxentür hinter uns, und erinnerte mich unwillkürlich an den Besuch, der in diesem Moment im Salon saß. Sofort verging mir die Lust, dorthin zurückzukehren. Es gibt aufregende Neuigkeiten, Viktoria, hatte meine Mutter beim Frühstück verkündet. Genaueres war aus ihr nicht herauszubekommen gewesen, doch ich ahnte bereits, dass sie mit der Ankunft unserer Bekannten aus der Hauptstadt zu tun hatten. Um Zeit zu schinden bürstete ich über das Fell meines Hengstes bis es glänzte, versorgte ihn mit Wasser und Heu und kämmte schließlich sorgfältig durch seine lange, weiße Mähne. Beim Schopf angekommen, blickte ich in seine hellblauen Augen und seufzte tief.

SilberblutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt