♕Epilog: Elion♕

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Die verschnörkelten Buchstaben des Buches vor mir begannen im schwindenden Licht des Tages zu verschwimmen und ich klappte es mit einem leisen Seufzen zu. Schon seit Tagen war ich damit beschäftigt zu lesen, von Anleitungen zur Herstellung von Heiltinkturen bis hin zu geographischen Besonderheiten der Königreiche verschonte man mich mit keinem Thema, gleich wie langweilig. Fletcher meinte es wäre notwendig für mich, Bescheid über all diese komplizierten Vorgänge und Fakten zu wissen, doch bisher hatte ich nur wenig erfahren, das ich für besonders nützlich hielt.

Er hat es gut, dachte ich, nicht ohne einen Anflug von Rebellion. Er steckt gerade vermutlich knietief in irgendeinem halbseidenen Abenteuer, während ich mich durch Stapel an Sachbüchern kämpfen muss.

Als hätte mich der Hund am Stand neben uns gehört, jaulte er auf und ich warf ihm einen verständnisvollen Blick zu. Sein Besitzer war vor Stunden fortgegangen, vermutlich um in irgendeiner nahen Taverne über den Durst zu trinken, und ließ keine baldige Rückkehr erahnen. Das Fell des Tieres stierte vor Dreck, ein Anblick der mir im Herzen wehtat. Vorsichtig brach ich ein Stück meines Proviants ab und warf es auf den Boden. Der graue Hund wagte sich jedoch nicht so richtig an mich heran, weshalb ich es mit einem Fuß in seine Richtung schob, bis er sich schließlich überwunden hatte.

Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte ich nach oben, wo die kräftige Wintersonne von dem wolkenlosen Himmel schwand, der sich seit unserer Ankunft vor 6 Tagen kaum verändert hatte. Die Kaugeräusche des Hundes vermischten sich mit den Händlerrufen und Gesprächen der Passanten, welche hauptsächlich aus Bediensteten und einfachen Bürgern bestanden. Vereinzelt ritt ein reich Gekleideter in Eile durch die Menge, sodass für einige Sekunden das pure Chaos ausbrach und die Menschen wild auseinanderstoben. Ansonsten war diese kleine Stadt an der Grenze ein friedliches Stückchen Erde, das von den feuchten Bedingungen der Küstenregionen verschont blieb. Sobald wir die Grenze zu Lowafels passiert hatten, war immer weniger von der Jahreszeit zu merken gewesen; während es in Walestein bei unserer Abreise gestürmt und gefroren hatte, war das Klima an der Grenze zu Barassa, der östlichsten Grafschaft des westlichen Königreichs und Sitz der Königsfamilie, wie ich kürzlich gelernt hatte, deutlich milder. Mein Reiseumhang reichte vollkommen aus, um die kühlen Winde abzuhalten, und meine abgetragenen Lederstiefel verhinderten, dass die Kälte des harten Erdbodens in meine Knochen kroch. Mit Schnee musste man hier nicht rechnen, sodass auch im Winter das Leben ungestört seinen Lauf nehmen konnte.

Ein neuer Seufzer bahnte sich an und ich unterdrückte ihn schuldbewusst. Ich verdankte es Fletcher, dass ich mich nicht wieder in meinem einsamen Turmzimmer befand oder mich alleine auf der Straße durchschlagen musste, trotzdem meinte ich mich wegen ein paar mickriger Bücher beschweren zu müssen. Der struppige Hund neben mir gähnte und begann es sich in einer Bodenkuhle bequem zu machen, offenbar zufrieden mit der halben Portion, die ich ihm abgegeben hatte. Kurz überlegte ich, meine langwierige Aufgabe wieder aufzunehmen, doch ich hatte keine Kerzen bei mir und meine Augen brannten bereits von den vielen hundert Seiten, die ich gelesen hatte. Um mich herum begannen unterdessen die Händler ihre Waren einzusammeln, da sich der Arbeitstag seinem Ende zuneigte. Simple Holztheken wurden abgeräumt und lieblos abgewischt, bevor man die Truhen versperrte und Säcke forttrug, in denen das überzählige Obst oder Gemüse vermutlich zum nächsten Bauern getragen wurde, der seine Schweine damit füttern könnte. Ich selbst hatte keinen Grund den Stand, den Fletcher mir als Teil unserer gutbürgerlichen Tarnung aufgezwungen hatte, zu schließen, blieb also ruhig sitzen und beobachtete das Treiben. Der dickliche Stoffhändler gegenüber lächelte mir freundlich zu, als er meinen Blick auf sich ruhen spürte, und ich bemühte mich es zu erwidern. Wir waren als fahrende Händler unterwegs, ein passender Deckmantel für Fletchers wahres Geschäft. Während ich diesen kleinen Stand mit allerei "Kuriosem" und "Einzigartigem" beaufsichtigte, in Wahrheit nicht viel mehr als ein Haufen Ramsch, handelte er mit Informationen und bot seine Dienste in den besten Kreisen feil. Dieser kleine Stand mit seinen Holzschemeln, dem staubigen Teppich unter meinen Füßen und einem Sortiment, das gerne interessiert begutachtet, jedoch selten gekauft wurde, stellte seit unserer Ankunft den Mittelpunkt meines Alltags dar. Mit jeder Stunde wurde ich des Herumsitzens überdrüssiger, ich brannte darauf mit Fletcher auf Erkundungstour zu gehen oder ihn bei seinen Verhandlungen zu beobachten, um praktische Erfahrung zu sammeln, doch bisher bestand meine einzige Abwechslung aus den nächtlichen Nacherzählungen der Geschehnisse und einigen lehrreichen Unterhaltungen mit Fletcher. Zumindest hatte er es nicht aufgegeben mich im Kampf zu unterrichten, sondern hatte mir sogar meine eigene Waffe besorgt. Ohne den Dolch den Augen der anderen preiszugeben, griff ich an die kleine Tasche, die um das gestärkte Lederkorsett meines Kleids geschnallt war, und fühlte nach dem Heft der Klinge. Ihre Anwesenheit beruhigte mich, wenn Fletcher nicht in der Nähe war; trotz meiner großen Worte und dem Verlangen nach Taten statt Büchern überkam mich beizeiten ein Gefühl der Unsicherheit. Theodor Fletcher war laut eigener Aussage ein Mann mit vielen Feinden, deren Gesichter oder Namen ich nicht kannte. Ob es ein Fehler gewesen war, mit ihm zu gehen?

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