♕ Elion V ♕

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Dicke Wolken hingen über dem Markt von Walestein und kündigten bereits erneute Gewitter an, die das mildere Wetter, das nach dem gestigen Sturm eingetreten war, bald ablösen würden. Einige der Händler hatten nach dem gestrigen Unwetter ihre Waren und sich lieber in Sicherheit gebracht, weshalb der matschige Platz sich ungewohnt weitläufig vor mir ausbreitete. Der üblicherweise geschlossene Halbkreis der Stände wirkte daher recht armselig trotz hoher Besucheranzahl; die Bürger mussten das gute Wetter für schnelle Besorgungen nutzen, bevor die Wolken erneut brachen und keiner mehr aus dem Haus wollte. Vor wenigen Stunden erst hatte es aufgeklärt, sodass die Sonne wieder vereinzelt durch die finstere Wolkendecke brechen konnte, und ich war , wie viele andere, entschlossen den kurzen Moment der Stille nach - oder eher vor - dem Sturm zu genießen. Nachdem ich den Morgen konzentriert damit verbracht hatte, die Schönheit der auflockernden Gewitterwolken so gut es mir möglich war auf Kanvas festzuhalten, hatte ich mir kurz nach zehn ein Pferd und meinen Mantel geschnappt und war ziellos darauf los geritten. Irgendwann war ich jedoch hungrig geworden und hatte mir überlegt, einen Abstecher auf den Markt zu machen, wo es immer eine große Auswahl an süßen und pikanten Kleinigkeiten gab, die meinen Hunger bis zur nächsten Mahlzeit stillen würden.

Etwas wackelig zog ich die Füße aus den Steigbügeln und schwang mich vom Pferd, wobei ich mein Bestes gab niemanden unabsichtlich mit meinem Absatz zu erschlagen. Bei den anderen Mädchen sah selbst das Absteigen elegant und vornehm aus, ich hingegen war schon glücklich, wenn ich mir dabei nichts tat. Dicht an das dunkelbraune Tier gedrängt atmete ich den Geruch von verschwitztem Fell und Gewürzen ein, während ich versuchte mich inmitten der Menschenmenge zu orientieren. Links von mir konnte ich einen gebückt gehenden Mann erkennen, der für vorbeikommende Kinder und ihre Eltern verführerisch duftende Mehlspeisen hervorzauberte und rechts schien es so eine Art roten Eintopf zu kaufen zu geben, der von einer Flamme darunter trotz der frischen Temperaturen warm gehalten wurde. Am liebsten hätte ich beides gekostet, doch ich hatte nicht viel Geld bei mir und entschied mich daher für eine dick gezuckerte Topfengolatsche, die mir der ältere Verkäufer lächelnd überreichte. Rasch gab ich ihm mit der Hand, die nicht die ledernen Zügel des Pferdes hielt, eine Münze und nickte ihm höflich zu, bevor ich hastig einen großen Bissen nahm. Meinen Einkauf essend, schlenderte ich an den anderen Marktständen vorbei und besah mir die Ware, auch wenn ich gar kein Geld hatte, um etwas zu kaufen. Fast tat es mir etwas leid die Händler erwartungsvoll aufspringen zu sehen, wenn ich in ihre Nähe kam, denn der gute Stoff meines Kleides musste sie etwas anderes denken lassen. Mein Aufzug war noch bei weitem nicht so extravagant wie Julianas, doch seit ich auf Silbermeer angekommen war, hatte ich auf die zahlreichen Aufforderungen von Raven und Viktoria hin zwei neue Kleider machen lassen, damit ich auch bei eleganteren Anlässen und Ausflügen nicht in Verlegenheit geraten würde. Heute trug ich mein neues Tageskleid mit zartem, zurückhaltend weiß-blauem Muster, zu dem mir Viktoria geraten hatte, unter einem älteren Reitmantel, den mir mein Vater schuldbewusst von einer seiner Reisen mitgebracht hatte. Ich hatte das neue Kleid bestellt, da die Komtess aus Schnellwasser mich nach einem langen Gespräch überzeugt hatte, doch um ehrlich zu sein verstand ich noch immer nicht, weshalb ich für den Alltag ein neues Kleid brauchte. Die meinigen waren vielleicht ein wenig aus der Mode und schlichter als man von einer Komtess erwartete, doch ich war auch nur eine halbe und außerdem trugen sie sich um einiges bequemer als dieses steife Kostüm. Schuldbewusst warf ich einen Blick zu dem weißen Hut mit der blauen Masche, der herrenlos am Sattel des Pferdes baumelte. Eigentlich gehörte er zum Outfit, doch das ständige Hin- und Herrutschen hatte mich wahnsinnig gemacht - vermutlich musste man ihn einfach besser feststecken. Ein leiser Seufzer entkam mir. Sich an Silbermeer anzupassen hatte sich ein bisschen schwieriger gestaltet als ich es erwartet hatte.

"Sorgen?"

Verwirrt suchte ich die Herkunft der Stimme, doch konnte in der Masse um mich herum niemanden ausmachen, den ich kannte. Erst als ein Pärchen neben mir beschloss weiterzuziehen, erkannte ich den Mann, der an der abbröckelnden Hauswand links von mir lehnte.

"Was machen Sie denn hier?"

Theodor Fletcher zog fragend die Augenbrauen in die Höhe. "Diese Begrüßung ist bei uns offenbar schon zur Tradition geworden. Darf ich mich nun nicht mehr auf öffentlichen Plätzen herumtreiben?"

Etwas verlegen begann ich herumzustottern. "Das ... Also Sie haben mich bloß überrascht. Natürlich dürfen Sie hier sein."

Schmunzelnd schüttelte er den Kopf, während sein Blick über den sommerlichen Stoff meines neuen Kleides wanderte. Unter seinen forschenden Blicken begann ich mich zu winden; er schien sich über meinen neuen Aufzug zu amüsieren und ich befürchtete das seine gute Laune nicht daher kam, dass ihm der Stoff gefiel. Vermutlich erkannte man aus zehn Metern Entfernung, dass ich mit Gewalt versuchte jemand zu sein der ich nicht war.

Mit einem Fuß stieß er sich von der Häuserwand ab und machte eine vage Geste, die ich als "Komm mit" deutete. Unentschlossen sah ich mich um, konnte jedoch niemanden entdecken den ich kannte. Ich wusste, dass ich dem Mann noch etwas schuldig war, aber meinen Ruf sollte ich dafür trotzdem nicht aufs Spiel setzen. Erst als ich mir sicher war, nicht gesehen zu werden, schlüpfte ich, dem tiefen Schlamm, den das Unwetter verursacht hatte, so gut es ging ausweichend, hinter ihm in eine düstere Nebengasse und durch die mitgenommene Holztüre, die zu dem Wirtshaus führte, in dem ich Fletcher zum ersten Mal aufgesucht hatte. Meine Augen brauchten etwas, um sich an das schlecht beleuchtete Innere des in die Jahre gekommenen Schankraumes zu gewöhnen und als ich endlich mehr als nur vage Schemen wahrnehmen konnte, sah ich, dass Fletcher es sich bereits an einem der klobigen Tische bequem gemacht hatte. Zu so früher Stunde war die Stube recht leer, nur vereinzelt saßen zerfledderte Gestalten an Randtischen, den Kopf auf die schmierige Tischplatte oder ihre Hemdsärmel gesenkt. Das dumpfe Klackern meiner Reitstiefel am Boden schien keinen der Anwesenden aus ihrem Koma zu wecken, im Gegenteil, der Wirt schien sich sogar absichtlich zu entfernen und Platz auf einem Sessel in der Ecke zu nehmen.

"Ihr erinnert Euch bestimmt an unser letztes Gespräch", begann mein Gegenüber leise und ich nickte. Natürlich, er hatte angekündigt, dass er auf meine Dienste zurückgreifen würde, was auch immer das heißen mochte. "Der Zeitpunkt dafür ist nun gekommen. Beweist mir, dass Ihr eine gute Investition wart."

Unsicher senkte ich den Blick auf die Tischplatte und fuhr mit den Augen die kleinen Kerben darin nach. "Wie soll ich das anstellen?"

"Wie Ihr vielleicht wisst, bin ich vorrangig ein Händler. Ich handle jedoch nicht nur mit Gütern, sondern auch mit Informationen. Wie zum Beispiel dem Namen Eurer Mutter", bemerkte er mit einem vielsagenden Blick, "Und ich benötige eine Information, an die ich alleine nur schwerlich herankomme. Hier kommt Ihr ins Spiel: Ihr besorgt mir Details zu einer Angelegenheit, die auf der Abendgesellschaft heute zwischen dem König und dem Grafen von Erzbach besprochen werden."

Misstrauisch hob ich den Blick. Den König belauschen? Das klang nach einer ganz furchtbaren Idee. "Wofür brauchen Sie diese Details?"

Er hob abrupt die Hände, als ob er mir sagen wollte, dass ich eine unsichtbare Grenze überschritten hatte. "Das geht Euch nichts an, mehr müsst Ihr nicht wissen."

"Wenn ich schon den König persönlich belauschen soll, dann habe ich doch wohl ein Recht darauf zu erfahren, wofür ich meinen Kopf riskiere!", zischte ich eindringlich und achtete dabei nicht auf einen der Stammgäste, der im Schlaf zuckte. Ich schuldete ihm etwas, das war wahr; aber doch nicht mein Leben.

Fletcher zuckte nicht einmal mit der Wimper, als mein Ton ruppiger wurde, stattdessen lehnte er sich auf seinem Platz zurück und verschränkte die Arme über der bemantelten Brust.

"Ich stelle Ihnen meine Dienste zur Verfügung, wie ausgemacht, doch das ... das ist unmöglich. Mein Aufenthalt auf Silbermeer ist der Gunst der Königsfamilie zu verdanken und sollte es auffliegen, dass ich für ... für Sie spioniere, dann schicken sie mich bestimmt fort."

Mein Gegenüber lächelte nachsichtig, als würde er mit einem kleinen Kind sprechen. "Was soll Euch denn schon groß passieren, seid lieber klug und zahlt Eure Schulden bei mir, wie auch immer der Abend verläuft, ihr werdet so oder so wieder nach Ostwald zurückkehren. Ich höre so einiges und ich kann Euch sagen, dass der Adel einen Bastard mit einer so undurchsichtigen Abstammung wie der Euren nur unter größten Vorbehalten als Königin akzeptieren würde - nicht, dass ihr genügend Biss hättet, um gegen die anderen Komtessen zu bestehen. Seid Ihr sicher, dass Ihr darauf Eure Karten setzen wollt? Der Prinz weiß bestimmt, dass es eine unkluge Entscheidung wäre, Euch an seine Seite zu stellen."

Er wusste genau, wo es weh tat und streute sorgfältig und mit voller Absicht Salz in meine Wunden, dem war ich mir sicher. Sprachlos starrte ich Theodor Fletcher an, nicht fähig dazu, die passenden Worte zu finden. Wie könnte ich ihm denn schon widersprechen, wenn er recht hatte?

"Solltet Ihr Euch mir gegenüber jedoch erkenntlich zeigen und die Abmachung einhalten, dann kann Ich Euch auch in der Zukunft beistehen. Ihr braucht bloß das Risiko einzugehen, etwas früher nach Hause zurückzukehren. Was ist denn schon dabei? Das Wetter hier ist sowieso alles andere als sommerlich."

Was denn schon dabei war zurück zu der Gräfin von Ostwald und dem Turmzimmer zu kehren, in dem ich hausen musste? Zurück zu endlosen Tagen in eintöniger Abgeschiedenheit, nur unterbrochen durch kurze Gespräche, die Hannah und ich in ihren geschäftigen und sorgfältig von mir getrennten Tagesablauf quetschen konnten? Zurück zu Gesellschaften, auf denen ich mehr wie ein ungewolltes Haustier behandelt wurde, als die Tochter meines Vaters, nur dafür gut die Gäste mit Musik zu unterhalten und den gehässigen und verbitterten Adeligen Gesprächsstoff zu liefern?

Mit blitzenden Augen sprang ich auf. "Nein."

Fletcher wirkte zum ersten Mal im Laufe unserer kurzen Bekanntschaft ehrlich überrascht, als er mir bedeutete mich wieder zu setzen. Ich ignorierte ihn.

"Niemals werde ich es riskieren nach Ostwald zurückgeschickt zu werden. Sie werden es nicht schaffen, mich vom Gegenteil zu überzeugen, also vergessen Sie es lieber gleich."

"Nun, das habt Ihr sehr leidenschaftlich vorgebracht. Doch ... rein hypothetisch ... was wäre, wenn der Hof davon Wind bekäme, dass ihr zum Reitunfall der Komtess von Schnellwasser beigetragen habt?"

Ich musste leichenblass geworden sein, denn auf Fletchers Gesicht begann sich ein siegessicheres Grinsen auszubreiten.

"Es gäbe natürlich eine Möglichkeit, dies zu verhindern."

"Wenn ich Ihnen die Informationen liefere", riet ich tonlos. "Sie erpressen mich."

Theodor Fletcher lachte leise auf. "In der Tat. Gut erkannt, Komtess."

Unfähig meine Wut noch länger hinunterzuschlucken, ließ ich meine Fäuste auf die Tischplatte hinunterkrachen und ignorierte den dadurch entstandenen Schmerz. "Nicht Sie auch noch! Denkt denn eigentlich jeder in Walestein er kann mit den Leben anderer spielen? Ich habe keine Ahnung woher Sie das mit Viktoria wissen, doch Sie können sicher sein, dass nicht auch nur das allerkleinste Detail des Plans auf meinem Mist gewachsen ist!" Ich holte tief Luft und versuchte mich etwas zu beruhigen, plötzlich erleichtert darüber, dass wir außer Sicht- und Hörweite jeglicher feiner Leute waren. "Sie sind ebenso wenig der erste, der mich erpressen möchte, also bilden Sie sich nichts darauf ein. Erbärmlich, ja, das ist dieses Verhalten, mehr nicht, und ich werde bestimmt nicht noch ein zweites Mal den Fehler machen und darauf eingehen. Jemand wurde bereits verletzt, damit ich meinen Ruf in Sicherheit wähnen konnte, doch mir ist jetzt bewusst geworden, was für ein Irrglaube das war. Es wird immer den Nächsten geben, der mich zu etwas zwingen möchte, um sich nicht selber die Hände schmutzig zu machen. Los, erzählen Sie dem ganzen Hofstaat was ich getan habe, lasst sie mich zurückschicken, es soll wohl einfach nicht sein, dass ich auch nur einen einzigen unbeschwerten Sommer erlebe."

Der Betrunkene, der vorhin im Schlaf gezuckt hatte, war während meiner Schimpftirade gähnend aufgewacht und hielt sich seinen vor Dreck starrenden Mantel über die Ohren, um doch noch einige Minuten weiterzudösen. Der Rest des Wirtshaus lag mucksmäuschenstill da. Selbst Fletcher schien es für einen Moment die Sprache verschlagen zu haben, doch gerade als in mir die Panik aufflammte, dass er seine Drohung wahr machen würde, begann er lauthals zu lachen. Verwirrt beobachtete ich wie er, ohne mir eine Erklärung zu liefern, vor sich hin lachte und dem Wirt zurief, ihm doch eine Flasche Met zu bringen.

Mit Lachtränen in den Augenwinkeln sah er mich an. "Bitte, setzt Euch. Der Met geht auf mich, so gut habe ich mich schon länger nicht mehr unterhalten gefühlt."

Nicht ganz sicher, ob ich erleichtert sein sollte, da seine Laune besser denn je zu sein schien, oder gekränkt, da er meinen Wutausbruch ganz offensichtlich nicht ernst nahm, sank ich tatsächlich zurück auf den groben Sessel.

"So viel Temperament hätte ich Euch gar nicht zugetraut, Komtess", meinte Fletcher amüsiert, als der Wirt zwei große Gläser und eine fast leere Flasche auf die Holzplatte vor uns knallte und wieder von dannen zog. Während ich noch darüber nachdachte, was ich darauf antworten sollte, schob er mir eines der Getränke zu. "Um ehrlich zu sein hatte ich Euch für ein langweiliges graues Mäuschen gehalten, das sich ihr Leben lang herumschubsen lassen wird. Aber ich habe meine Meinung geändert - vielleicht gibt es doch noch Hoffnung für Euch. Prost."

"Prost", murmelte ich leise, der Gefühlsausbruch von vorhin war abgeklungen und ich schämte mich ein bisschen dafür, auch wenn ich nichts von dem Gesagten zurücknehmen wollte.

"Also, erzählt mir etwas über Eure erste Erpressung. Das muss aufregend gewesen sein... Ich nehme an die Komtess von Ehrenhall hatte etwas damit zu tun? Der Familienruf eilt Ihr voraus."

Einen Schluck nehmend, bedeutete er mir es ihm nachzutun, und vorsichtig - in Gedanken bei den Kopfschmerzen, die mir der Wein am Ball verursacht hatte - nippte ich am Met. "Sie wollte prekäre Lügen über mich verbreiten, wenn ich ihr nicht dabei helfe. Meine Aufgabe war es Viktoria abzulenken, mehr wusste ich nicht über ihren Plan."

"Und aus Angst vor ihrem Einfluss habt Ihr Euch gefügt."

Schuldbewusst zuckte ich mit den Schultern und starrte in mein Glas.

"Wenn Ihr nichts getan habt, dann solltet Ihr selbstbewusster dafür eintreten. Wie konntet Ihr achtzehn Jahre in dieser Welt unter den Reichen und Einflussreichen verbringen und Euch dann von einer Person wie dieser einschüchtern lassen? Die muss es doch wie Sand am Meer in Eurem Umfeld geben."

"Achtzehn Jahre lang habe ich nicht viel von dieser Welt gesehen", gab ich knapp zurück, bevor ich einen größeren Schluck wagte. Dieses Getränk schmeckte nicht ganz so furchtbar wie der Wein auf dem Ball.

Neugierig begann Fletcher mir Fragen über mein Leben und Ostwald zu stellen, die ich vorsichtig beantwortete, ohne ihm zu viele Details zu geben. Ich hatte nicht vergessen, dass diese Person mit Informationen handelte und potentiell nur Interesse vorgaukelte, um "Ware" zu erhalten. Als ich ihm erklärt hatte, dass die Gräfin mich nicht ausstehen konnte, da ich der lebende Beweis für die Untreue ihres Mannes war, und mich deshalb aus dem Großteil der Burg verbannt hatte, begann ich etwas lockerer zu werden und erzählte auf Nachfrage sogar von Hannah und meiner kleinen Halbschwester, die ich kaum treffen durfte. Fletcher schien von einigen Aspekten meiner Geschichte ehrlich überrascht und ich freute mich heimlich etwas darüber, dass er doch nicht alles wusste.

"Und der Graf?"

"Oh, er weiß von dem Verhalten seiner Frau, denke ich. Ich habe ihn in der Vergangenheit gebeten, mich auf eine Schule oder fort zu Freunden zu schicken, aber er hat mir strikt angeordnet mich mit meiner neuen Mutter zu vertragen und die Burg nicht ohne ihr Einverständnis zu verlassen."

"Als ob es an Euch scheitern würde", murmelte Fletcher verständnislos und nahm einen kräftigen Schluck Met. Mir fiel auf, dass sein gewaltiges Glas beinahe leer war und fragte mich ob seine Plauderlaune womöglich zum Teil diesem Umstand zu verdanken war.

"Wie bitte?"

Ernst sah er mich an, bevor er sagte: "Ich weiß wie es ist, wenn einem nicht geglaubt wird. Die Wahrheit hört sich leider manchmal unplausibler an als die Lüge."

"Du meinst, er glaubt lieber daran, dass sich seine Tochter daneben benimmt, als dass seine  Frau eine gewalttätige Hexe ist?"

Fletcher prostete mir zu. "Exakt. Das hätte ich nicht besser sagen können."

Wenn ich so darüber nachdachte, machte es Sinn. Mein Vater und ich standen uns nicht wirklich nahe, um ehrlich zu sein kannten wir uns überhaupt nicht. Seine Frau hingegen ...
"Was für ein Dreck."

"Du hast wirklich viel Zeit mit Bediensteten verbracht", merkte er grinsend auf meinen Ausdruck hin an und ich presste verlegen die Lippen aufeinander. Ich konnte üblicherweise gut kontrollieren, was ich zu wem sagte, doch irgendetwas an diesem Wirtshaus und Fletcher ließ mich meine Manieren vergessen. Dass Fletcher zum Du gewechselt hatte, überging ich währenddessen geflissentlich. Ich hatte so das Gefühl, dass Theodor Fletcher niemand war, dessen Freundschaft man leichtfertig ablehnen sollte.

"Ich sollte vermutlich gehen", sagte ich trotz allem, da mir die Uhrzeit aufgefallen war und ich ungerne das Mittagessen im Schloss verpassen wollte. "Außer du hast noch vor mich zu erpressen, dann sag es mir bitte gleich, damit ich packen kann."

Sein Grinsen wurde noch etwas breiter, bevor er den Kopf schüttelte.

"Mir ist der Spaß daran vergangen, du kannst beruhigt sein."

Die Falten in meinem nagelneuen Rock glättend, verabschiedete ich mich von meinem merkwürdigen Freund, bevor ich zur Tür hinaus ins Sonnenlicht trat. Hinter mir trank Theodor Fletcher in Ruhe den Rest seines Getränks aus, bevor auch er zahlte und den schummrigen Schankraum verließ.

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