Die Muskeln an meinen Armen brannten, als ich, die Augen im hellen Licht der Sonne zusammengenkniffen, zum wiederholten Male den Bogen spannte und die hölzerne Zielscheibe mit angehaltenem Atem anvisierte. Nahezu lautlos überwand der Pfeil die kurze Distanz, bevor er am Rand der runden Scheibe mit einem dumpfen Geräusch einschlug.
„Argh!" Ich widerstand dem Drang, den Bogen zu Boden zu werfen. Kaum zu glauben, dass ein paar Wochen, in denen ich keinen Bogen in der Hand gehabt hatte, mich derart aus der Übung kommen ließen. Ich nahm den letzten Bogen aus dem Köcher, fest entschlossen, ihn dieses Mal in die Mitte der Zielschiebe zu schießen, als das Geräusch näherkommender Hufe und Räder ertönte. Den Garten, wo bereits riesige Festzelte und lauter Tische und Bänke aufgestellt waren, vermeidend, schlug ich mich durchs Gebüsch. Den Bogen beiseite werfend, raffte ich die Röcke meines lavenderfarbenen Kleides und stieß einen Freudenschrei aus, als die große Kutsche meiner Familie im Innenhof der Burg hielt, in der ich aufgewachsen war, die emsig umhereilenden Bediensteten ausblendend. Mich nicht um meine kunstvolle Frisur kümmernd, die ohnehin durch die lange Reise bereits etwas mitgenommen aussah, lief ich, so schnell es meine Füße erlaubten, auf meine große Schwester Greta zu, die sich als Erste von einem Bediensteten aus der Kutsche helfen ließ. Überschwänglich fiel ich ihr um den Hals und genoss den Geruch nach Wiesenkräutern, der an ihrem Kleid haftete und mich so sehr an sie erinnerte.
„Du ahnst nicht, wie sehr ich euch vermisst habe", murmelte ich an ihrem Hals und schwelgte in ihrer festen Umarmung.
„Ich freue mich, dass du wieder hier bist!" Langsam löste sie sich aus meinem Griff und musterte mich prüfend. „Auch, wenn ich unheimlich neugierig bin, wieso du so bald wieder zurück bist!"
„Stell dich hinten an!" Ich blickte an Greta vorbei zu Elona, die gerade formvollendet aus der Kutsche schwebte und mich herausfordernd musterte. Obwohl sie gerade einmal zwei Jahre jünger als ich war, hatte ich das Gefühl, dass sie sich am Hof bei Silbermeer bedeutend wohler gefühlt hätte. Sie liebte ausschweifende Feiern, stand gern im Mittelpunkt und zog mit Vorliebe die Aufmerksamkeit sämtlicher Männer im heiratsfähigen Alter auf sich. Nicht, dass sie je einen der Kandidaten, die mein Vater zuweilen vorschlug, für gut genug befunden hätte – der Ehemann, den sie sich vorstellte, musste wohl erst erfunden werden.
„Vik!" Ein rosafarbener Fleck war alles, was ich aus der Kutsche hüpfen sah, bevor sich die schmalen Arme des Nesthäkchens unserer Familie um meine Taille schlangen. Marianne, erst diesen Frühling dreizehn Jahre alt geworden, war das genaue Gegenteil von Elona – in sich gekehrt, ruhig, und lieber in der Gegenwalt von Tieren und Atlanten als auf einem Ball unter Leuten.
Die kleinere Kutsche meiner Familie kam hinter der ersten zum Stehen und emsige Betriebsamkeit wie in einem Bienenstock brach aus, als noch mehr Bedienstete herbeieilten und einen Teil meiner Schwestern nach drinnen begleiteten. Als ich vor wenigen Stunden angekommen war, hatte ich mich bereits gewundert, wohin denn alle so früh am Morgen verschwunden waren, doch nachdem mich mein erster Weg zu den Stallungen und einem ausgiebigen Ausritt mit Rob geführt hatte, war ich dem beschäftigten Personal wohl ausgewichen. Mein Gepäck dürfte das einzige sein, das meine Ankunft verraten hatte, doch inmitten der Vorbereitungen für welche Festlichkeiten auch immer dürfte das untergegangen sein.
Ein junges Mädchen in Zofentracht, das mir nicht bekannt vorkam und demnach noch neu am Hof sein musste, bezog neben der Kutschentür Position und öffnete sie. Ein sommersprossiger Arm in einem blassgelben transparenten Handschuh kam zum Vorschein, gefolgt von einem Hut mit ausladender Krempe in derselben Farbe und einem cremefarbenen Kleid bestickt mit kleinen Blumen, das die Tür ausfüllte. Als die Frau leichtfüßig die wenigen Stufen bis zum Boden nahm, ihren Kopf hob und in die Richtung blickte, wo Greta und ich noch standen, breitete sich ein Ausdruck purer Überraschung auf ihrem Gesicht aus. Sich nicht von der Stelle rührend, wandte sie den Blick nicht von uns ab, sodass der Mann in Uniform, der weniger elegant hinter ihr die Stufen hinunterpolterte, beinahe in sie hineinstolperte.
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Silberblut
Novela JuvenilSeit dem goldenen Krieg blüht das östliche Königreich unter der Führung der Silbermeer-Familie auf, doch um die Beziehung mit den Grenzgebieten stark zu halten, soll Kronprinz Jonathan zu seinem 19. Geburtstag eine Braut aus den ländlichen Grafschaf...