♔ Jonathan IV ♔

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"Damit wäre alles Nötige geklärt, hoffe ich."
Der Graf von Erzbach, ein alter Freund meines Vaters, nickte zufrieden, wobei sein Kinn in einem erschreckend speckigen Hals versank, der vermutlich nur von dem dicken Bortenkragen seines Hemdes in Form gehalten wurde. Ich hatte mich während den geschäftlichen Unterhaltungen beherrschen können, doch nun musste ich zugeben, dass es doch ziemlich erheiternd war, ihn in seinem Anzug steckend, wie eine Wurst in der Pelle, anzusehen.
"Oh, wie günstig", rief dieser, plötzlich aufgeregt und deutete mit hervorquellenden Augen auf zwei Frauen, die sich uns langsam näherten.
"Meine Frau, Verona", stellte er die ältere der beiden stolz vor und die um einiges schlankere Gräfin, gekleidet in ein warmes Karminrot, knickste elegant.
"Es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen."
Mein Blick wanderte zu dem blonden Mädchen in viel blasser Spitze, die der Szene bisher still lächelnd an Veronas Seite beigewohnt hatte. Sich dramatisch räuspernd, hob der Graf seine füllige Hand, die mit einigen klobigen und sehr unvorteilhaften Goldringen bestückt war, nun in ihre Richtung. "Und meine bezaubernde Tochter, Rosalie."
Wie es sich gehörte knickste sie tief vor mir und meinem Vater, bevor sie sich mit einem höflichen Lächeln auf dem Gesicht wieder erhob.
"Eure Beschreibung trifft durchaus zu, Otto. Findest du nicht auch, Jonathan?"
Überrascht erwiderte ich den amüsierten Blick meines Vaters, der darauf zu warten schien, dass ich ihm auf seine unangenehme Frage antwortete.
"Natürlich, Vater." Ein schneller Seitenblick verriet mir, dass die Situation nicht nur mir unangenehm war, denn die Komtess selbst hatte den Blick errötend auf ihren pastellrosa Kleidersaum gewandt. In einem Versuch die Atmosphäre aufzulockern, fügte ich hinzu: "Ihr seht heute Abend tatsächlich sehr hübsch aus. Wie gefällt Euch die Gesellschaft bisher?"
"Äußerst gut, danke der Nachfrage. Die Dekoration ist wirklich gelungen und die Musik erst ... der einzige Grund sich zu beschweren wäre, dass noch niemand tanzt", antwortete sie sanft und nahm mit ihrem Tonfall den letzten Worten jegliche Schärfe.
Mein Vater klopfte mir grinsend auf den Rücken und nickte seinem Freund zu. "Ich denke die jungen Leute verstehen sich und brauchen uns nicht. Was sagst du zu einem kleinen Spaziergang, Otto? Hier drinnen wird es schon wieder so furchtbar warm."
Der Musik lauschend, sahen wir den beiden älteren Herren dabei zu, wie sie den Saal tratschend in Richtung der gewaltigen Terassentüren durchquerten, nachdem diese für sie geöffnet worden waren.
Wir wandten uns wieder zueinander um und ich musste ungewollt lachen. "Entschuldigt bitte, es liegt nicht an Euch. Ganz entgegen dem, was sie glauben, sind unsere Väter nicht gerade subtil."
Sie kicherte verlegen. "Da mögt Ihr Recht haben, aber sie meinen es bestimmt nur gut."
Diesbezüglich konnte ich ihr nicht widersprechen, aber als ich sah, dass sie nervös an ihrem mit Perlen übersähten Haarreifen zu zupfen begann, bemühte ich mich darum das Gespräch am Laufen zu halten. Das war nun einmal das Mindeste, das ich tun konnte, nachdem mein werter Herr Vater den Nerv gehabt hatte, sie in diese Situation zu bringen.
"Tanzt Ihr gerne? Ich fürchte, dass noch niemand den Abend eröffnet hat, doch falls Ihr ..."
"Oh, nein, ich möchte keine Umstände machen. Später wird bestimmt getanzt, dann schließe ich mich mit Freuden den anderen an. Seid Ihr ein guter Tänzer?"
"Ich wage nicht zu behaupten, dass ich besonders viel Talent darin hätte, aber davon lasse ich mir keine Bälle vermiesen", gestand ich lächelnd. Da auf Silbermeer häufig solche Veranstaltungen stattfanden, hatte ich mich daran gewöhnt, um einiges mehr zu tanzen als ich es wollte, damit niemand behaupten konnte ich wäre unhöflich gegenüber den Gästen. Obwohl ich meinen Frieden damit gemacht hatte, würde ich jederzeit ein gutes Buch oder Gespräch dem Tanz vorziehen. Sobald das Winterfest vorbei war, würde die Anzahl der Bälle und Gesellschaften auf Silbermeer und allgemein in Walestein endlich rapide abfallen und es würde ruhig im Schloss werden. Als ich darüber nachdachte, dass die Wintermonate hier von vielen anderen Adeligen, vor allem denen aus dem südlicheren Westen, als langweilig und abgeschieden beschrieben wurden, kam mir unwillkürlich die Komtess von Ehrenhall in den Sinn, wie sie gelangweilt die Gänge des Schlosses auf und ab laufen würde, nach einer Intrige suchend, die es zu spinnen galt, oder einem Bediensteten, den sie piesacken konnte.
"Mir gefällt an solchen Festen immer die Vielfalt an Farben und Kleidern am besten - seht nur, dort drüben. An keinem anderen Tag würde man solch interessante Kleider sehen."
Ich folgte ihrem Blick zu einem Grüppchen, aus dem eine junge Frau in Pfauenfarben gekleidet hervorstach. Tatsächlich trug sie kein besonders gewöhnliches Kleid, doch besonders begeistern konnte ich mich über ihren auffälligen Kleidungsstil nun auch wieder nicht. Womöglich lag dies jedoch daran, dass ich Raven gewohnt war und mich dank ihrer nach Aufmerksamkeit schreienden Kostüme überhaupt nicht mehr viel überaschte. Ein waldgrüner Rock blitzte zwischen den Umstehenden auf und ich verrenkte mir den Hals bei dem Versuch, einen Blick auf die Trägerin zu erhaschen. Für einen Moment hatte ich gedacht, es wäre Viktoria, doch ein Blick auf ihr Gesicht zerstreute die Vermutung rasch.
"Sucht Ihr jemand bestimmtes?", erkundigte sich die blonde Komtess, die mich offenbar mit Interesse dabei beobachtet hatte.
"Ich frage mich nur, ob die Komtess von Schnellwasser heute Abend tatsächlich hier ist. Sie hat sich auf einem gemeinsamen Ausritt leider verletzt und Bettruhe erhalten, aber man hat mir gesteckt, dass sie nicht gedenkt, diese einzuhalten."
"Sie möchten sie also dafür schelten, dass sie den Rat ihres Doktors ignoriert, oder gibt es einen anderen Grund für ihre Besorgnis?"
Unsere Blicke trafen sich und ich schüttelte lächelnd den Kopf. Wollte ich mich bei ihr beschweren? Oder hoffte ich viel eher, dass sie heute Abend trotz allem gekommen war?
"Ich deute Euer Schweigen als Anzeichen dafür, dass ich das Gesprächsthema wechseln sollte. Wie findet Ihr das Wetter heute?", fragte sie leichherzig, worüber ich nicht ganz unglücklich war. Eine Antwort hätte ich ihr nämlich nicht geben können.
Ich zog eine leidende Grimasse, da mir die Worte fehlten, um das Unwetter höflich und optimistisch zu beschreiben. "Es ist ein Wetter."
Sie lachte glockenhell auf, woraufhin sie sich rasch eine behandschuhte Hand vor den Mund hielt. "Oh ja, das ist es definitiv. Schönere Worte dafür werden wir auch nicht finden, fürchte ich."
Gerade öffnete ich den Mund, um ihr zuzustimmen, als ich eine Person an einem der Tische rechts von uns zu erkennen meinte. Ein zweiter Blick bestätigte mir, dass es diesmal tatsächlich Viktoria war, die gemütlich mit Raven und einigen anderen Gästen Karten spielte. Zumindest saß sie, was ihren Knöchel entlasten würde, trotzdem war es eine unbedachte Entscheidung gewesen zu kommen, anstatt die Verletzung in Ruhe heilen zu lassen. Eine Mischung aus Freude darüber, dass sie anwesend war, und Missbilligung wegen ihres unbedachten Erscheinens machte sich in mir breit, während ich mich von Rosalie entschuldigen ließ und zu dem Kartenspiel stieß.
"Eure Hoheit, setzt Euch doch zu uns", bot eine Frau in ihren frühen Zwanzigern an, deren Namen ich schon gekannt, jedoch wieder vergessen hatte.
"Raven ist gerade gegangen", fügte Viktoria hinzu und deutete lächelnd auf den ehemaligen Platz der Prinzessin. "Daher haben wir wohl einen Platz frei."
"Danke. Ich hoffe euch gefällt der Abend bisher?"
Ihr Kartenspiel pausierend plauderten wir einen Moment über belanglose Dinge wie die Dekoration, die Musik, die Gäste und das Buffet, bis Agnesa - ihr Name war mir wieder eingefallen - sich mit ihrem Ehemann und dem Bruder entschuldigte, um einen Happen zu essen. Viktoria und ich blieben zu zweit am Tisch zurück, auf dem das vergessene Kartenspiel liegen gelassen worden war.
Vielsagend sah ich sie an. "Wie geht es deinem Knöchel?"
"Ausgezeichnet", erwiderte sie mit Elan, bevor sie etwas kleinlauter hinzufügte: "Solange ich sitze. Ich bin mir bewusst, dass es keine kluge Entscheidung war zu kommen, doch meine Zofe begleitet mich und ich werde meinen Knöchel nichts Gefährlichem aussetzen."
Überzeugt hatte sie mich nicht, aber das freche Grinsen, das sich auf ihrem Gesicht breitgemacht hatte, war ansteckend und ich beschloss, die Sache nicht zu vertiefen. Es war ihre Entscheidung, ich konnte nur meine Sorgen ausdrücken und ihr meinen Rat geben, alles andere lag nicht in meiner Hand. Ihr Knöchel schien dick bandagiert zu sein, weshalb ihr Schuhwerk heute bestimmt besonders bedacht gewählt worden war, doch der Verband machte es ihr trotzdem nicht einfach den Knöchel abzubiegen und so hatte ließ sie ihn ausgestreckt vor sich ruhen. Mein Blick blieb an dem Abendkleid darüber hängen, das sie für die heutige Gesellschaft ausgewählt hatte und ich stellte fest, dass es ihr ausgezeichnet stand. Grün schien ihr jedenfalls gut zu gefallen, denn auch heute trug sie diesselbe Farbe wie letztes Mal, nur einen Stich blasser, mit dunklen Borten und Schleifen.
Erst als sie sich räusperte, merkte ich, dass ich sie etwas zu lange angesehen hatte. Rasch begann ich wieder zu reden. "Es ist bloß schade, dass du heute Abend wohl nicht tanzen wirst."
"Das ist ein Jammer, aber es wird immer ein nächstes Mal geben", meinte sie optimistisch und beugte sich etwas vor, als wolle sie mir einen geheimen Plan zuflüstern. "Außerdem gibt es bestimmt Tänze die auch einbeinig machbar sind."
Mir die Komtess einbeinig beim Tanz vorstellend, musste ich lachen. "Bitte nicht, du würdest einigen Gästen einen fürchterlichen Schrecken einjagen."
"Schandhaftes, ungehöriges Benehmen! Was soll denn nur aus diesem Mädchen werden, wenn sich keiner ihrer annimmt", ahmte Viktoria mit viel Geschick die Stimmen der hochnäsigen Adeligen nach, was mich dazu brachte laut loszulachen. Schließlich gingen die Imitationen in ihrem eigenen Gelächter unter und es dauerte eine Weile bis wir uns wieder gesammelt hatten. "Ich denke du hast recht - ich verzichte heute Abend darauf, das Tanzbein zu schwingen."
"Das nächste Mal", sagte ich aufmunternd. "Aber damit dein Knöchel rasch heilt, musst du ihn in den nächsten Tagen wirklich schonen. Ansonsten tanzt du noch nächste Saison einbeinig."
Sie seufzte resigniert auf. "Sehr wohl, ich werde mich zusammenreißen. Den morgigen Tag werde ich, so wahr ich hier sitze, zur Gänze im Bett verbringen und nur meine liebe Zofe wird mir Gesellschaft leisten."
"Zur Beschäftigung kannst du sie ein wenig herumkommandieren", schlug ich trocken vor und Viktoria rollte mit den Augen.
"Dafür ist mein Mitgefühl zu groß. Außerdem wird mir mein morgendlicher Spaziergang hoffentlich reichen, um davon den ganzen Tag zu zehren."
Fassungslos hob ich die Hände. "Ein morgendlicher Spaziergang? Was ist aus deinen Vorsätzen bezüglich der Bettruhe geworden?"
"Nun, ein bisschen frische Luft am Morgen muss eben sein, ich bin auch nicht lange unterwegs und meine Zofe wird mich begleiten."
"Bei offenem Fenster kommt die Frischluft auch ins Zimmer, anstatt du zu ihr", merkte ich an, bevor ich realisierte, das es keinen Sinn hatte mit ihr zu diskutieren. Viktoria war entschlossen auf diesem oder anderem Wege nach draußen zu kommen; sie musste es wirklich verabscheuen, in ihrem Zimmer eingesperrt zu sein. "Versprich mir bitte, dass du dich morgen früh nicht hinausschleichen wirst. Ich verstehe nämlich etwas anderes als einen Spaziergang darunter, den Fuß nicht zu belasten."
Ernst sah ich sie an, da es mir tatsächlich ein Anliegen war, dass ihr Knöchel schnell heilte. Wenn er es nicht tat, dann würde sie in diesem Sommer nicht viel mehr von Silbermeer und Walestein sehen als die Wände ihres Zimmers, und ich hatte ihr immerhin einen Ausritt ans Meer versprochen.
Sie wirkte, als erwägte sie erneut mit den Augen zu rollen, riss sich dann aber offensichtlich zusammen und nickte. "Versprochen."
"Danke", meinte ich erleichtert und schenkte ihr ein gut gelauntes Lächeln. Im Geiste machte ich mir jedoch die Notiz, sie morgen früh abzufangen - ich glaubte keine Sekunde lang, dass sie sich nicht beim ersten Sonnenstrahl umentscheiden würde.
"Aber nur weil ich auf den Ausritt zur Küste gespannt bin. Den hast du doch hoffentlich nicht vergessen?
"Natürlich nicht", versicherte ich ihr mit Nachdruck, denn ich hatte bereits alles dafür geplant und sobald ihr Knöchel wieder vollständig geheilt war, würden wir aufbrechen können. "Ich freue mich schon darauf."
Eine Antwort erwartend, sah ich sie an, doch ihr Blick glitt an mir vorbei zu einem Punkt hinter mir und sie richtete sich kaum merklich auf. Verwirrt drehte ich mich auf meinem Platz um, damit ich sehen konnte, was sie innehalten ließ, und entdeckte meinen Vater und Graf Erzbach, die, mit Rosalie an ihrer Seite, auf uns zukamen.
Mein Vater grüßte Viktoria lächelnd. "Ein schöner Abend, nicht wahr? Den konntet Ihr Euch offenbar trotz Eurer Verletzung nicht entgehen lassen, aber wer kann Euch das schon verübeln."
Etwas ertappt erwiderte die Komtess das Lächeln. "Ein sehr schöner Abend."
"Nur der Tanz fehlt, nicht wahr, meine Liebe?", warf Otto auf einmal mit blitzenden Augen ein und sah zu seiner Tochter. "Die Musiker haben sich eben nach dem ersten Lied erkundigt."
"Wäre es nicht eine Schande, wenn niemand den Tanz eröffnen würde?" Almar schien bereits einigen Wein getrunken zu haben, das erkannte ich sofort. Sobald mein Vater trank, wurde er zu einem zweiten Cambriel und ich mied ihn daher bei solchen Anlässen für gewöhnlich, zumindest wenn es spät wurde. Cam selbst konnte ich wenigstens in seine Schranken weisen, aber dem König musste ich jede Dummheit durchgehen lassen - zumindest in der Öffentlichkeit. Die einzigen Unstimmigkeiten die es zwischen uns beiden je gegeben hatte, waren wegen des Trinkens gewesen, aber Almar ließ sich diese Freude nicht nehmen. "Jonathan, du sitzt doch sonst nur den ganzen Tag an deinem Schreibtisch und tust wissen die Götter was, wo du dich doch in so glänzender Gesellschaft diesen Sommer über befindest - wie wär's, wenn du mit Rosalie den ersten Tanz eröffnest? Ihr lernt euch besser kennen, denn wir werden noch viel von ihr und ihrer Familie in Zukunft sehen."
Überrascht sahen die Komtess und ich uns an, aber beide wussten wir, dass Widerspruch zwecklos war. Mit einer entschuldigenden Grimasse zu Viktoria, erhob ich mich und bot Rosalie höflich meinen Arm an.
"Würdet Ihr mit mir tanzen?"
Sie kicherte verlegen und warf einen Blick zu den Musikern. "Unbedingt. Den Armen scheint bereits langweilig zu sein."
Unsere Eltern schnellstmöglich hinter uns lassend, steuerten wir auf das Parkett zu und nahmen Position ein, während die ersten Klänge der Tanzmusik ertönten und andere Paare sich einreihten.
"Euer Vater steht meinem, zumindest was die Heiterkeit auf Festen angeht, offenbar in nichts nach."
"Oh, nein, gewiss nicht, aber ihr solltet erst meinen Bruder kennenlernen, der ist auch nüchtern nicht anders", gab ich kopfschüttelnd zurück.
Rosalie knickste tief und richtete sich mit einem strahlenden Lächeln wieder auf.
"Das würde ich sehr gerne."

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