23. Anekdote aus verdrängten Zeiten

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Wir machen uns sofort auf den Weg zum Krankenhaus. Kuno am Steuer ist merkwürdig ruhig und ich frage mich, was wohl in ihm vorgeht. 

„Wie ist deine Oma so? Mögt ihr euch?", frage ich vorsichtig und merke, wie er den Griff um das Lenkrad verstärkt.

„Ich habe sie seit dreizehn Jahren nicht gesehen."

Oh...

„Wieso das?"

Er antwortet nicht. Stattdessen klammern sich seine Hände noch fester.

„Sie wusste anscheinend meine Telefonnummer und hat die Ärzte gebeten, mich anzurufen und zu fragen, ob ich kommen will", erzählt er weiter, ohne auf die vorige Frage einzugehen.

Er schluckt und konzentriert sich dann verstärkt auf die Straße, um sich vermutlich abzulenken.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Er wirkt so... 

Wow, dreizehn Jahre...

Okay, ich habe meine Großeltern nie kennengelernt, aber ich frage mich, wie es wäre, wenn es anders gewesen wäre. Würde ich sie dann vermissen?

„Ist sie eigentlich deine Oma mütterlicher- oder väterlicherseits?"

„Ilma ist die Mutter, meiner... also mütterlicherseits." Seine Stimme klingt merkwürdig gepresst. 

Ilma, also... 

Ich habe so viele Fragen. Wie sind seine anderen Großeltern? Hat er zu allen keinen Kontakt mehr? Wenn ja, wieso? Aber ich halte mich zurück. Ich denke, diese hebe ich mir besser für einen anderen Moment auf.

Bei dem Vater von Hendrik und André weiß ich ja, dass er... also, dass er sich vor sechzehn Jahren aufh... also das Leben nahm... Ein Schaudern packt mich bei dieser Vorstellung. 

Kurz darauf sind wir auch schon da und ich merke, wie ich mich verspanne. Mein Blick geht hinauf zu dem großen Gebäude, in welchem Ilma liegt. Es ist kein schöner Platz. Erst jetzt wird mir wieder meine Abneigung gegenüber Krankenhäusern bewusst.

Ich bekomme sofort Gänsehaut und das Gefühl haltloser Einsamkeit, Angst und ein wehrloses Schaudern.

Ausgeliefert...  Ach nein, bitte nicht jetzt!

Dasselbe Gefühl, wie ich es aus meiner Kindheit kenne und welches mich noch Jahre danach in meinen Träumen verfolge. Damals, als ich einen Großteil meiner ersten Lebensjahre in so einem verbringen musste. 

Ohne Eltern. Ohne Schutz. Diesen verschiedenen Untersuchungen und zwanghaften Ernährungsformen unterlegen.

Nie wieder!

Nie wieder, soll irgendetwas mich auf so eine Weise in ihren Fängen haben! Das ist auch der Grund, weshalb ich so lange vor der Liebe davongelaufen bin. Hier gab es definitiv zu wenig davon.

„Anella, alles okay?" Meine Hände klammern sich verkrampft in den Sitz. Anstatt sie lockern zu können, krallen sie sich immer weiter in das Material. Meine Fingernägel schmerzen schon. 

Verflixt, konzentriere dich! Du schaffst das. Einfach tief durchatmen!

Ich achte angestrengt auf meine Atmung und merke erst nach einigen Augenblicken, dass Kuno anscheinend mit mir spricht. Er ist zu mir herumgelaufen und hat sich vor mich hingehockt, während er mich besorgt ansieht. 

Perplex blinzele ich und verfange mich dabei in seinen braunen Augen. 

Seine schönen, mystischen Sümpfe.

Tanz mit dem Morgentau - Das Geheimnis der Tränen ~ Band 3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt