Kapitel 1

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Dicker weiß-grauer Nebel quoll unter Nox Krallen hindurch, die Kälte kletterte an seinen Beinen hinauf und lies sein dunkles Gefieder zu Berge stehen. Die finsteren Gassen des kleinen Dorfes vor ihm waren mit warm leuchtenden, gelben Laternen geschmückt. Aus den Häusern drangen die Geräusche eines ausklingenden Abends. Vom Hafen, der kaum mehr als eine Anlegestelle für Fischerbote war, hörte man Glocken läuten und einzelne Befehle wurden gebellt, Segel knallten, als der Wind hineinfuhr. Das Klirren von Gläsern und ein metallisches Scheppern wehte vom örtlichen Gasthaus zu ihnen hinüber.
„20 Jahre habe ich gesucht. Ich denke, hier ist der perfekte Ort!" Nox zog seinen Umhang fester über die Schultern und verdeckte so seine schwarz-grauen Schwingen. Sein mit Gefieder gekrönten Kopf verschwand geübt unter einer weiten Kapuze.
„Was meinst du, sollen wir mal Hallo sagen?"
Sein Gefährte, ein majestätischer schwarzer Hengst mit einem goldenen Horn auf der Stirn, schüttelte den Kopf und schnaubte: „Es ist fast Mitternacht, die Leute sind im Tageslicht meist besser gelaunt und offener gegenüber Fremdlingen. Warte bis morgen."
„Oh, aber wir wollen doch Eindruck machen, oder nicht? Immerhin werden wir eine ganze Weile hier bleiben." Nox setzte ein zuversichtliches Grinsen auf.
„Ich sehe keine Notwendigkeit für deine Scharade. Du könntest dir einfach ein anderes Auge nehmen" erwiderte der Hengst, nicht zum ersten Mal.
„Ich will MEIN AUGE zurück! Ich warte schon so lange darauf, diesen verdammten Burschen in die Klauen zu bekommen und ich werde mich jetzt nicht einfach mit B-Ware zufrieden geben!"
Das Einhorn schien mit den Schultern zu zucken, auch wenn das natürlich ganz und gar unmöglich war: „Du machst doch sowieso was du willst. Ich werde hier draußen warten, da oben auf dem Hügel und ein wenig im Mondlicht kreischen, dass den Dörflern das Blut in den Adern gefriert." Der Hengst entblößte ein paar scharfe Zähne und wandte sich zum gehen.
„Warte damit gefälligst, bis ich meinen Auftritt hatte. Das hat mir letztes Mal ganz schön die Tour vermiest!"
„Nun gut, dann geh ich jetzt auf Dreck kauen oder so was."

Der Hengst trabte missgelaunt davon, als sich Nox dem Dorf näherte. Die Gassen waren eng und der Boden mit dicken Pflastersteinen ausgelegt, Feuchtigkeit schien sich in jeder Ritze zu sammeln und es roch nach Kerzenwachs und Rauch. Aus dem Fenster eines rußschwarzen Backsteinhauses drang ein leises Lied, das jemand auf einer Leier zupfte. Nox näherte sich mit zielsicheren Schritten dem großen Gasthaus, das am Rande des Dorfplatzes stand. Schräg gegenüber befand ein ebenso großes Ladenlokal, das mit bunten Palisaden und Schildern mit Hinweisen auf großzügige Rabatte geschmückt war. Abgerundet wurde das für Nox unheilige Dreieck durch eine etwas abseits errichtete Kirche. Zahllose Flaggen mit den Symbolen der vielen Götter flatterten im Wind. Nox schnaubte bei ihrem Anblick, straffte die Schultern, holte tief Luft und öffnete schwungvoll die Tür zum Schankraum. Hinter der quietschenden Tür erwartete ihn ein großer, hell erleuchteter Saal, der mit zahlreichen Tischen und Stühlen aus dunklem Holz voll gestellt war. Das Mobiliar schien unter der schier unmöglichen Anzahl an Gästen sowie Bierkrügen zu knarren und zu ächzen. Eine klebrige Flüssigkeit bedeckte den Boden und da Nox unter seinem Gewand keine Schuhe trug, versuchte er so wenig Bodenhaftung wie möglich zu haben. Sein Blick ging nach vorn. Links und rechts von der Theke aus führten Treppen nach oben zu einer langen Empore, die mehrere, einfach verzierte Türen aufwies. Die Fremdenzimmer, wie er vermutete.
Wie in einem solchen Szenario zu erwarten war, verstummten augenblicklich alle Geräusche und die Blicke der alkoholisierten Anwesenden richteten sich auf den Neuankömmling. Für Nox das Zeichen, sich vorzustellen. Er warf theatralisch seine Kapuze zurück und in einer fließenden Bewegung seinen Mantel zu Boden. Seine großen, dunklen Schwingen streckte er weit von sich, verbarg dafür aber die scharfen schwarzen Klauen seiner Finger unter den langen Ärmeln seines ebenso dunklen Gewandes. Das dicke, breite Lederband mit den feinen Stickereien, das um seinen Hals lag knarrte angespannt als er rief: „Bürger von Nebelschleich, ich bin hier, um euch zu segnen!" Eine einzelne nervöse Schweißperle tropfte von seiner Stirn.
„Es ist ein Engel!" rief ein junger Mann, der kaum noch geradeaus sehen konnte und beim Aufspringen sein Bier verschüttete.
„So ist es!" erwiderte Nox mit klebrig süßer Stimme. Er hatte gehofft, seine geflügelten Erscheinung würde ihm nutzen und er hatte auch keine weiteren Ideen, wie er die Menschen für sich gewinnen könnte. So nahm er es erfreut zur Kenntnis, ihm gefiel der Klang des Wortes und der Einfluss, den es versprach. Ein Engel war der Gesandte eines Gottes, ein anbetungswürdiges Wesen, dass den Menschen Frieden und Glück versprach. Das war es, wohinter Nox sein wahres Ich verbarg. Sein einäugiger Blick schweifte durch die übrigen Anwesenden. Würden sie ihrem bedauernswerten Sauf-Kumpanen zustimmen? Hatte er mit Widerstand zu rechnen? Die kleinen Federn, die wie eine Weinrebe seine Arme hinaufwuchsen, zitterten vor Anspannung. Seine langen schwarzen Haare stellten sich im Nacken auf, dort wo das dicke Lederband nur leicht verschnürt war, jederzeit bereit geöffnet zu werden. Es entstanden ein paar Sekunden Narratives-Vakuum.

Das Auge von NoxWo Geschichten leben. Entdecke jetzt