Als Arabella das Tor des alten Herrenhauses geöffnet hatte, schlug ihr ein fauliger Gestank entgegen, der den üblichen Gammel-Geruch eines Fischerdorfs bei Weitem übertraf. Es mochte Einbildung sein, aber sie hatte das Gefühl, dass ihr Geruchssinn deutlich schärfer war, als noch am Morgen zuvor. Es erschien ihr gerade so, als würden sich beißende, rote Dämpfe in ihren Nasenlöchern winden und hinter ihre Augen kriechen. Sie schlug in einem Anflug von Übelkeit die Hand vor den Mund und erschrak, als ein plötzlicher kurzer Schmerz ihre Lippen durchfuhr. Sie zog die Finger weg und betrachtete sie ungläubig. Wo bis vor kurzem noch ein einzelner Stachel aus ihrem Handrücken geragt hatte, waren da nun Dutzende. Alle noch kurz, aber spitz wie Nadeln.
„Was um alles in der Welt?" keuchte Arabella und ließ die Hand sinken.
„Ihr habt auch Stacheln am Rücken, wisst ihr das?" fragte John nicht ohne eine gewisse Häme. Seelenruhig trottete er an ihr vorbei.
„Die waren gerade eben aber noch nicht da ..." murmelte die Wirtstochter und trat ebenfalls ein. Die Eingangshalle war dunkel und ein wenig feucht. Moder lag in der Luft, zusammen mit dem bissigen Geruch nach Fleisch und Blut. Aus einem Loch im Boden drang roter Schimmer.
„Heeeelft mir!!! Biiiitteee!" erklang ein dünnes Stimmchen am anderen Ende des Raumes. Zielsicher und entgegen Johns ausdrücklichem Protest steuerte Arabella auf den geflochtenen Korb zu, der offenbar einem vernunftbegabten Wesen als Käfig diente. Ohne die Zweifel, die Nox gehegt hatte, brach sie den Korb in zwei Teile. Ein kleines Ding purzelte heraus. Es war rosa, hatte plüschiges Fell am Rücken und 6 Beine, allesamt mit kleinen Krallen bestückt. Aus dem winzigen Gesicht schauten zwei strahlend grüne Augen hinter einer spitzen Schnauze hervor. Wäre es stacheliger gewesen, hätte Arabella es für einen Igel gehalten.
„Danke! Danke! Danke! Nun lasst mich bitte gehen!" rief das kleine Tier.
„Warte! Erst will ich wissen, wer oder was du bist" Arabella hob es vorsichtig hoch, um es nicht zu verletzen. Das kleine Ding schnüffelte an ihren Fingern und nickte: „Du bist auch berührt worden!"
„Ich bin was?"
„Die Magie ... sie hat dich auch berührt. Genau wie mich. Vor ein paar Wochen noch war ich ein ganz normaler Igel, habe Igel-Dinge getan, mich auf den Winter vorbereitet. Und jetzt bin ich ... was auch immer ich bin." Das kleine Wesen seufzte leise.
„Wie ist das passiert? Bitte, sag es mir."
„Ich wurde gefangen, von einem Mann, der sein Gesicht hinter einer Kapuze versteckt hat. Er brachte mich zu einer Frau, mit ganz hungrigen Augen. Ich dachte, sie wollte mich fressen!" Der Igel schauderte.
„Was ist dann passiert?" fragte Arabella ungeduldig.
„Sie hat mich ... aufgeschnitten ..."
„Was?"
„Hier" Das kleine Wesen deutete auf eine feine Narbe auf seinem rosa Bauch „Sie hat ein leuchtendes Ding in mich hineingesteckt, ich weiß nicht was, ich kannte die Worte dafür nicht."
„Oh ..." machte Arabella „Und was passierte dann? Hast du dich verwandelt?"
„Ja. Ich hatte plötzlich Gedanken, die ich noch nie gedacht habe. Mir ist ein paar zusätzliche Beine gewachsen und meine Stacheln wurden weich. Die Frau schien gar nicht zufrieden zu sein. Sie hat mich hierher gebracht und in einen Korb gesteckt. Ich hatte ... viel Zeit um nachzudenken. Ich will nicht mehr nachdenken müssen."
Arabella ging in die Knie und setzte das kleine Wesen vorsichtig ab: „Es tut mir leid zu hören, was dir zugestoßen ist. Es muss schlimm für dich gewesen sein."
„Ich habe so viel nachgedacht, ich weiß gar nicht mehr, wie man ein richtiger Igel ist ..."
„Ich werde dich gerne von deinem Leid erlösen" meldete sich John zu Wort, doch Arabella winkte nur verärgert ab.
„Geh, wenn du möchtest. Du bist jetzt frei und niemand wird dir mehr ein Leid zufügen" meinte die Wirtstochter und lächelte. Das kleine Wesen trippelte drei Schritte davon und drehte sich dann um.
„Es wird dir ergehen wie mir. Du bist ein Mensch und je größer du bist, desto länger dauert die vollständige Verwandlung. Flieh, versteck dich und halte dich fern von der Frau mit den hungrigen Augen." Der Igel trippelte in Richtung Ausgang. Arabella erhob sich vorsichtig. Waren ihre Stacheln gerade länger geworden? Langsam schritt sie in Richtung des Loches, aus dem das rote Licht und der Gestank drang. Sie lehnte sich nach vorne und spähte hinein. Obwohl es darin erstaunlich dunkel war, konnte sie alle Konturen klar erkennen. Sie schloss für eine Sekunde die Augen und ließ sich auf dem Boden nieder. Was wenn das Wesen recht hatte? Was wenn sie ihre Menschlichkeit verlor?
„Sag mir, Einhorn. Kennst du die Frau, von der der Igel gesprochen hat?"
John schnaubte unwillig.
„Sag schon, kennst du sie?"
Der Hengst scharrte mit den Hufen und überlegte. Sollte er ihr die Wahrheit sagen? Hatte Nox ihn nicht gebeten, es vor der dummen Dirne geheim zu halten? Er hatte sicher nicht die Worte „Dumme Dirne" benutzt. Aber nun war sie ohnehin hier, hatte den geheimen Raum gesehen, den fleischverdrehten Igel. Was nützte es, weitere Geheimnisse zu hüte. Grollend gab er Antwort: „Eure Zauberwirkerin. Ich glaube sie heißt Marianne."
„Nein ..." Arabella wurde unter ihrem roten Haarschopf sehr bleich. Sie schluckte schmerzhaft: „Das kann nicht sein, nicht sie!"
„Oh und wie das sein kann. Ich kenne eure Talisman-Händlerin seit zwei Jahrzehnten. Sie ist ein Biest, unersättlich auf der Suche nach weiterer Macht. Dies hier ist ihr Werk. Und wenn ich das richtig sehe, so seid ihr auch eines. Eure Ohren werden übrigens gerade recht pelzig."
Arabella ignorierte den letzten Kommentar, ihr Aussehen hatte mit einem Schlag ziemlich an Bedeutung verloren. Die Frau, die sie so lange bewundert hatte, deren Werke Wohlstand ins Dorf gebracht hatten ... sollte wie wirklich solch schreckliche Dinge tun?
„Warum ...?" hauchte Arabella voller Unglaube und verlor das Bewusstsein.
DU LIEST GERADE
Das Auge von Nox
FantasyZwanzig Jahre lang hatte Nox nach dem perfekten Ort gesucht, um Rache an jenem Abenteurer zu nehmen, der eines seiner Augen gestohlen hatte. Nun musste er noch das Vertrauen der Dorfbewohner gewinnen ... wären da nur nicht dieser Hunger auf Fleisch...