Kapitel 6 - Die Dinge im Hintergrund

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„Die Leiche ist weg!“
„Was?“
„Die Leiche!!! Sie ist weg!!!“ Erwald hatte sich nach vorne gebeugt, die Hände auf den Oberschenkeln gestützt. Er keuchte und schnappte nach Luft, da er den gesamten Weg vom Friedhof bis zum Dorfplatz gerannt war. Sein Atem hing in dicken Dampfwölkchen in der herbstlich kühlen Luft. Arabella und Nox waren gerade im Aufbruch gewesen, um den alten Herrn Günther nach seiner Beobachtung zu befragen.
„Was soll das heißen, weg?“ fragte Arabella und hob gleichzeitig abwehrend die Hände, als Erwald wieder loskeuchen wollte „Jetzt hol erstmal tief Luft und dann sag mir, was genau du meinst.“
Der junge Mann stemmte sich mühsam in eine senkrechte Position und wischte sich den Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn.
„Ich sollte Gottfried helfen, auf dem Totenacker ein Loch für den alten Gustav zu graben ... oder für das, was von ihm übrig ist. Aber Gottfried sagte, Gustav sei weg.
*Ich habe ihn nicht gefressen* dachte Nox, angewidert bei der Erinnerung an das verbrannte, geschmolzene Fleisch *Und John hat auch einen deutlich besseren Geschmack *
„Dann sollten wir wohl unserem Priester zuerst einen Besuch abstatten, was meint ihr?“ Arabella wandte sich an Nox, der jäh aus seinen Gedanken gerissen wurde.
„Wir machen heute wohl keine Pause mehr, oder?“ fragte er ohne jede Hoffnung. Das Vertrauen von Menschen zu gewinnen war harte Arbeit und er war sich nicht sicher, ob das Aufklären von Morden zu den allgemein üblichen Kennenlern-Ritualen gehörte.
„Ihr könnt gehen und euch ausruhen, wenn ihr wollt. Ich kann allein mit Gottfried sprechen“ meinte Arabella nicht unfreundlich, aber mit einem Hauch Enttäuschung in der Stimme, den Nox nicht hören wollte.
„Nein, schon gut, ich begleite euch“ antwortete er eilfertig.
„Tut mir leid, ich muss weiter. Wenn ich kein Loch graben soll, dann gehe ich zurück zu den Docks und helfe den Fischern.“
„Bis später Erwald!“, rief ihm Arabella zu, als sie sich auf den Weg machten.

Der Friedhof lag auf einer Anhöhe mit Blick über das kleine Fischerdorf und seinen ewigen Nebel, der auch von dem Gottesacker nicht Halt machte und ihm selbst an diesem sonnigen Nachmittag noch eine gespenstische Atmosphäre verlieh. Knorrige Bäume mit vereinzelten Blättern von Herbstlaub und moosbewachsene Gräber komplettierten den Anblick. Im Gegensatz zu anderen Dörfern, die Nox bisher besucht (und schnell wieder verlassen) hatte, befand sich die Kirche nicht direkt neben dem Friedhof, sondern unten im Dorf. Er fragte Arabella danach.
„Nun, unser Dorf ist nicht allzu groß, so haben wir unsere Kirche allen Göttern und deren Anhängern gewidmet. Manche von ihnen glauben nicht an eine klassische Beerdigung.“
„Sondern?“
„Nun, nehmt zum Beispiel Zweigtanz, den Gott des Waldes. Er würde es bevorzugen, wenn seine Gläubigen unter den Wurzeln liegen und die Bäume nähren, anstatt unter einem Stein zu vermodern.“
Das schien Nox durchaus einleuchtend und gleichzeitig sehr umständlich.
„Was ist mit eurem Gott? Welche Rituale sollten wir armen Menschen für ihn durchführen, wenn wir nicht mehr sind?“ Arabella fragte es mit ausgesprochen spitzer Zunge und Nox wiegelte ab: „Am besten mit gar keinen. Mein Gott verhindert Beinahe-Katastrophen. Kein Grund für ihn zu sterben.“
„Das gefällt mir, glaube ich“ meinte die Wirtstochter und ging einen Schritt schneller voran. Gottfried der Priester näherte sich ihnen, mit einem höchst bekümmerten Gesichtsausdruck.
„Was ist passiert?“ fragte Arabella „Erwald hat uns berichtet, dass die Lei ... das Gustav verschwunden ist.“
„So ist es, fürchte ich“ Gottfried schien ein wenig in sich zusammenzusacken. „Die drei Burschen haben seine sterblichen Überreste hierhergebracht. Ich ging nur kurz zurück zur Kirche, um im Dorfregister zu prüfen, welcher Religion Gustav angehörte und die entsprechenden rituellen Gegenstände für die Beerdigung zu holen. Ich war höchstens eine halbe Stunde fort, doch als ich zurückkam, war Gustav nicht mehr hier. Dann erschien Erwald um mir zu helfen, ein Loch zu graben.“ Bekümmert blickte er zu Boden.
„Passiert sowas hier öfter?“ fragte Nox interessiert und Arabella stieß ihm einen Ellbogen in die Seite.
„Nein, noch nie in meiner gesamten Amtszeit, sind mir die sterblichen Überreste eines unserer Gemeindemitglieder abhandengekommen.“
„Er ist aber auch erst seit zwei Jahren hier, frisch aus dem Priesterseminar‘‘ flüsterte Arabella leise in Richtung Nox, der nicht verstand, warum das ein Geheimnis sein sollte. Menschen flüsterten doch nur, wenn sie Geheimnisse hatten, oder?
Plötzlich schien dem Priester etwas einzufallen: „OH! Es tut mir so leid, ich habe euch noch gar nicht gegrüßt! Ihr seid ein Engel, nicht wahr? Oh, ich freue mich so, dass ihr unser bescheidenes Dorf beehrt! Ich wollte es euch schon heute Morgen sagen, aber dann kamen all diese unglückseligen Dinge dazwischen. Von welchem Gott seid ihr gesandt worden?“
Nox stutzte kurz. Wie hieß er nochmal? „Ehrm ja... von Janagut Hatjanochgeklappt.“
„War es nicht Nungut Hatgeklappt?‘“ warf Arabella ein und Nox nickte zustimmend.
„Stimmt, das war es, verzeiht, ich werde langsam müde, der Tag ist so lang“ Er rieb sich die federnbewachsene Falte zwischen Nase und Augen.
„Dann kommt doch mit mir, es ist ohnehin Zeit für Tee und der weckt die Lebensgeister“ meinte Gottfried aufmunternd. Nox war kurz versucht anzunehmen, doch Arabella schüttelte den Kopf: „Es tut uns leid, aber wir untersuchen die Umstände des unglückseligen Ablebens von Gustav. Habt ihr denn etwas oder jemand Verdächtigen gesehen?“
„Heute nicht. Aber gestern Abend war eine Gestalt mit einem Kapuzenmantel hier auf dem Gottesacker, sie schien ein Grab besucht zu haben, doch bevor ich ein zweites Mal hinsehen konnte, war sie bereits verschwunden.“
„Aha! Welches war es denn?“
„Es tut mir leid, dass konnte ich nicht so gut erkennen.“ Gottfried schüttelte bedauernd den Kopf.
„Keine Sorge, wir finden es schon noch so heraus. Ich danke euch für eure Hilfe Gottfried. Und nehmt es nicht so schwer, es ist nicht eure Schuld, dass Gustavs sterbliche Überreste verschwunden sind.“
„Ich hätte niemals gedacht, dass so etwas passieren kann“ erwiderte er zerknirscht.
„Das geht uns ähnlich. Gehabt euch wohl, wir sehen uns bald wieder.“
„Ist das nicht klar? Ihr lebt doch im selben Dorf, Arabella“ meinte Nox und stiefelte der Wirtstochter nach, die es nun ziemlich eilig zu haben schien.
Arabella ignorierte seine Aussage geflissentlich und fasste zusammen: „Das war ein guter Hinweis! Jetzt auf zum alten Herrn Günther, ich bin gespannt, wie das alles zusammen hängt.“
„Zwei Leute haben einen Kuttenträger gesehen. Das kann Zufall sein.“
„Ist es aber nicht!“ meinte Arabella mit Überzeugung und beschleunigte ihren Schritt abermals.
„Habt ihr gesehen, dass es um das geplante Grab herum keinerlei Spuren gab?“ erkundigte sich Nox und die junge Frau nickte knapp.
„Eben drum. Hier geht etwas ganz und gar nicht mit rechten Dingen zu.“

Das Auge von NoxWo Geschichten leben. Entdecke jetzt