Kleine weiße Dampfwolken schwebten vor den Nüstern des Hengstes, der sich mühsam seinen Weg durch die eng stehenden Bäume bahnte. Das erste Tageslicht sickerte langsam durch die Baumkronen, die nachtaktiven Tiere begaben sich zur Ruhe und John war nun endgültig mit seinen Gedanken allein. Er ließ den Wald hinter sich und erreichte ein offenes, im Nebel versunkenes Feld. Er musste schon weitab von Nebelschleich sein, denn der Wasserdampf hier interessierte sich nicht dafür, ihn zu peinigen. Doch dafür sackten seine Hufe bei jedem Schritt ein wenig tiefer in den Morast ein. Es half nichts, dachte er bei sich, er würde einen Umweg nehmen müssen, um nicht unfreiwillig als Moorleiche zu enden. Er lachte heiser. Das wäre doch sehr ironisch, nachdem er alles getan hatte, um dem Tod zu entkommen. John zog die Hufe aus dem Schlamm und wendete sich wieder in Richtung der Bäume. Er würde am Waldrand entlang laufen, bis er eine Möglichkeit fand, das Moor zu umgehen. Die Sonne stieg höher und Johns Magen begann laut zu knurren. Mehr als widerwillig fing er an, wie ein gewöhnliches Pferd auf Gras zu kauen. Es knackte nicht, wie kleine Knochen zwischen den Zähnen, es war nicht süßlich wie das Blut einer Jungfrau, es war einfach nur ödes, muffiges Grünzeug. Doch reichte es, um seinen Hunger zu stillen. Er sah sich aufmerksam nach allen Seiten um. Scheinbar hatte er den letzten Rest menschlicher Zivilisation schon vor einigen Stunden hinter sich gelassen. John sank ins abgekaute Gras und legte den Kopf auf die Vorderbeine. Und mit der Ruhe kamen auch die Sorgen zurück. Es war schon wieder geschehen, er hatte eine Person, die seine Hilfe hätte brauchen können, einfach zurück gelassen. Er hatte sein eigenes Leben über das eines anderen, (in diesem Fall Arabellas) gestellt. Was war er nur für ein unfassbar egoistischer Feigling! Was würde Nox von ihm denken, wenn er davon erfuhr. Aber wie konnte John so sicher sein, dass er überhaupt noch am Leben war. Es gab keinerlei Hinweise, dass er den Sturz ins Meer überlebt hatte. Und wenn es so wäre, wo war er dann? John schnaubte leise und schloss einen Moment lang die Augen. Nox war seine letzte Chance gewesen, seinem eigenen Leben einen Sinn zu geben, seine eigene Seele vor dem Nichts zu bewahren. Und er hatte, wie so oft schon, versagt. Mit den warmen Sonnenstrahlen auf seinem schwarzen Fell, glitt sein Bewusstsein in einen unruhigen, von giftigen Träumen geplagten Schlaf.
Die nussbraune Stute wieherte kraftlos. Ihr üppiger Leib hob und senkte sich in qualvollen Krämpfen, eine rasch größer werdende Lache aus dickflüssigem Blut sammelte sich unter ihrem Hinterleib.
*Es ist fast da* dachte John und trat ein paar Schritte zurück. Er beobachtete die Szene aus sicherer Entfernung. Der alte Bauer und seine Frau taten alles, um es der Stute so leicht wie möglich zu machen. Die Tochter schluchzte laut und streichelte ihre Nüstern. Die Frau schüttelte den Kopf. Da trat der Bauer an die Stute heran, hockte sich hin und zog unter großer Kraftanstrengung ein schwarzes, mit Blut und Schleim überzogenes Ding aus ihrem Leib heraus. Die Stute bäumte sich ein letztes Mal auf. Die Frau kam heran und nahm das Fohlen auf ihren Arm, befahl der Tochter eine Decke zu holen um es abzureiben. John streckte den Kopf neugierig nach vorn. Es war sein Junges, dass die Stute da geboren hatte. Gleich würden sie das Horn auf seiner Stirn entdecken. Seit jeher plagte John die Ungewissheit. Würde man sein Fleisch und Blut am Leben lassen oder es zusammen mit der Stute verbrennen? Da, ein kräftiger Ruck, der Bauer laut schreiend, rasend vor Wut. Das Fohlen, kaum mehr als ein paar Minuten alt, tot im Stroh.
*Das war wieder nichts* dachte sich John mürrisch und wandte sich ab. In all der Zeit, die er nun schon am Leben war, hatte er zahllose Nachkommen gezeugt, doch bestenfalls war noch eine Handvoll am Leben. Und er kannte kein Einziges davon beim Namen. Er trottete davon und würdigte die Szene keines weiteren Blickes. Er streifte über die Trampelpfade zwischen den Feldern, auf denen der Mais bereits hoch wuchs. Vor ihm, auf einem der Felder, arbeitete eine junge Magd. Voller Umsicht und ganz in ihre Arbeit vertieft, prüfte sie die Ernte. John kam leise näher und senkte den Kopf. Ein gezielter Stich seines Hornes würde ihre Brust durchbohren, bevor sie auch nur einen Schrei von sich geben könnte. Der Hengst preschte los, doch hatte er ihren Begleiter nicht gesehen, der nun, von dem Geräusch aufgeschreckt aus der ersten Reihe Maistauden heraussprang und sich John todesmutig entgegen warf. Das schwarze Einhorn geriet ins Straucheln, stolperte und stürzte zusammen mit dem jungen Burschen zur Seite. Beide rutschten einen kleinen Abhang hinab, der bis hinunter ins Dorf führte. Die Kontrahenten überschlugen sich und dem jungen Bauerssohn gelang es, das Messer zu zücken, mit dem er gerade noch den Mais abgeschnitten hatte. Mit dem Mut der Verzweiflung schaffte er es, John die Klinge in den Hals zu stoßen. Mit Wucht schlugen beide unterhalb des Abhanges auf. Der junge Mann blieb reglos liegen. Schwer atmend kam der Hengst wieder auf die Beine, heißes Blut schoss in sein Maul und tropfte an den Lefzen herab. Er hatte sich mehrere Prellungen zugezogen, doch er brachte es fertig, langsam vorwärts zu gehen, weg von dem Burschen und weg vom Dorf, eine Spur aus roten Pfützen hinter sich herziehend. Er rettete sich in ein nahes Waldstück, die dicht stehenden Bäume verschlagen seine Gestalt. Kraftlos sackte er zusammen, er spürte, wie ihn das Blut nun immer schneller verließ, wie es sich mit jedem Herzschlag einen Weg aus seiner Wunde bahnte. Und wie John so da lag und auf den Tod wartete, da empfand er keinen Trost, kein warmes Licht, das seine Seele empfing, kein Gott der Pferde der ihn willkommen hieß. Nicht einmal ein Gott der Monster ließ sich blicken, um seine Seele zu beanspruchen. Da war nichts, nur Schmerz und Kälte und die nagende Erkenntnis, dass sein unsterbliches Leben nicht zu einer unsterblichen Seele führte und das am Ende seines Weges niemand auf ihn wartete. Doch John hatte Glück. Die Blutung ließ langsam nach.
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Das Auge von Nox
FantasyZwanzig Jahre lang hatte Nox nach dem perfekten Ort gesucht, um Rache an jenem Abenteurer zu nehmen, der eines seiner Augen gestohlen hatte. Nun musste er noch das Vertrauen der Dorfbewohner gewinnen ... wären da nur nicht dieser Hunger auf Fleisch...