Es war eine ziemlich missliche Situation und die Panik stieg in Nox auf, als er Erwalds Stimme am Eingangstor hörte. Der freundliche junge Mann würde jede Sekunde eintreten und all das sehen, was Nox unbedingt vor ihm verbergen wollte. Zwei tote Abenteuer in der Ecke. Eine offene Luke die den Blick auf ein (aller Wahrscheinlichkeit nach) gefährliches Geheimnis freigab. Hinten im Raum ein Käfig mit irgendeinem sprechenden Ding darin und nicht zu vergessen, eine vor Wut schnaubenden Einhornhengst.
„E… EINEN AUGENBLICK!“ rief Nox so laut er konnte „WARTET KURZ!!“ Dann wandte er sich an John: „Biiiiittteeee!!!“ Die Verzweiflung war echt, das spürte John.
„Urgh, na schön“ murrte er und ließ sein Horn verschwinden. Im gleichen Atemzug packte der Hengst einen in der Nähe liegenden Teppich und warf ihn mit Schwung über die offene Luke. Ein klein wenig in der Hoffnung, der dumme Tölpel an der Tür würde darauf treten und sich unten alle Knochen brechen.
„Die Leichen…“ Nox Augen wurden groß, als er die Blutspur und die beiden leblosen Körper betrachte, während sich die Eingangstür mit einem lauten Karren öffnete.
„Herr Engel? Ihr seid heute Morgen nicht ins Dorf gekommen, da wollte ich nach euch seh… OH.“ Erwald blieb stehen.
„Ooooh?“ erwiderte Nox mit zum Zerreißen gespannten Nerven und kaltem Schweiß im Gefieder.
„Ihr habt ja ein Pferd.“
„Jaaaaah?“
„Einen Hengst. Offensichtlich.“
„Jaaaaaah.“ Worauf wollte der Bursche denn hinaus? Lieber Himmel.
„Euer Hengst …“ Erwalds Blick musterte John mit unverhohlener Irritation.
„Jaaaaa? Was ist mit ihm?“ fragte der Eulendämon mit weiter steigender Nervosität, den Blick mit einem falschen Lächeln fest auf Erwald geheftet.
„Warum wirkt er so … lasziv?“
Nox schielte langsam rüber zu John, der sich, wie wohl kein normales Pferd es je gekonnt hätte, auf dem Boden räkelte und dabei geschickt die beiden Leichen verdeckte, die immer noch in der Ecke lagen. Seine langen Beine streckten sich über die Blutflecken, so gut es möglich war. Er sah aus, als würde man ihn gleich zeichnen wollen. Mit einem blauen Diamanten um den Hals.
"Ich … denke, wir sollten ein wenig nach draußen gehen. ALLEIN.“ Nox wollte nach Erwalds Schultern greifen und es kostete ihn einige Überwindung, den jungen Burschen zu packen, drehen und in Richtung Ausgang zu schieben. Er steuerte ihn weitläufig an dem alten fransigen Teppich vorbei, dessen Ränder rot glühten ob der zahlreichen Artefakte, die darunter lagen. Erwald schien es nicht zu bemerken. John schnaubte ein wenig enttäuscht.Nox zog Erwald mit sich aus dem alten Herrenhaus, ein ganzes Stück runter in Richtung Dorf, bis er stehen bleiben musste um Luft zu holen. Der Gestank des geheimen Raumes würde ihm wohl noch tagelang in den Nüstern kleben.
„Ist alles in Ordnung? Fühlt ihr euch nicht wohl?“ fragte Erwald mit einer aufrichtigen Besorgnis in der Stimme, die Nox für völlig unangemessen hielt.
„Es ist alles gut“ gab er nicht ganz so freundlich zurück, doch Erwald schien das nicht zu kümmern. Er musterte Nox von oben nach unten und blieb mit dem Blick auf seiner Brust hängen. Dort prangte nach wie vor ein ziemlich großes Loch in der schwarzen Robe und gab den Blick auf eine fiese Brandwunde frei, die mit allerlei geschmolzenen Federn gespickt war. Erwalds große blaue Augen wurden noch größer. Bevor Nox die Arme verschränken und den Anblick verbergen konnte, hatte ihn Erwald bei den Schultern gepackt. Ein Schauer zog Nox von den Kniekehlen bis hoch in die letzten Federspitzen, als hätte ihn ein Blitz durchfahren.
„Ihr seid ja verletzt? Wie ist das passiert? Wo? Warum?“
Nox sagte nichts. Er hatte keine Ahnung, was er darauf antworten sollte. Er wollte nicht, dass der Bursche oder Arabella von der Ansammlung verbotener Talismane erfuhren. Wenn er selbst schon angegriffen worden war, nur weil er dort oben lebte (was er zumindest vermutete), wie würde es ihnen ergehen, wenn sie wussten, was sich dort verborgen hielt?
„Was sagt man in einem solchen Fall?“ erkundigte sich Nox schließlich zögernd und Erwald blinzelte irritiert, da es sich nicht um eine Antwort handelte.
„Was meint ihr?“
„Ich frage mich, was man in einem solchen Fall sagt. Ich könnte auf eine Feuerstelle gestolpert sein oder vielleicht hat mich ein Blitz getroffen. Was könnte ich sagen, damit ihr keine weiteren Fragen stellt?“
„Hm ... ich denke, die Geschichte mit der Feuerstelle wäre gut genug.“ Erwald zuckte mit den Schultern.
„Wunderbar. Also, ich bin auf eine Feuerstelle gestürzt. Das war wirklich sehr schmerzhaft. Ich kann es kaum erwarten, bis meine Wunden verheilt sind. Danke der Nachfrage.“ Damit war das Gespräch für Nox beendet, für Erwald aber nicht.
„Oh! Nein, bei so etwas solltet ihr Ludwig aufsuchen!“
„Wer ist Ludwig?“ erkundigte sich der Eulendämon und musste feststellen, dass er noch längst nicht alle Dorfbewohner kannte.
„Unser Heilkundiger! Er verarztet euch schneller, als ihr „Bitte nicht“ sagen könnt.“ Erwald klatschte voller Tatendrang in die Hände und winkte Nox, ihm zu folgen, als er sich wieder auf den Weg machte.
„Und warum sollte ich „Bitte nicht“ sagen?“
„Das sagt man nur so. Die meisten Menschen gehen nicht gerne zum Heiler, einfach weil sie fürchten, er könnte ihnen sagen, dass sie zu viel rotes Fleisch essen, mehr Spaziergänge machen müssten oder er behandelt sie mit stinkender Salbe. Aber eure Wunde sollte versorgt werden, ich hatte im letzten Frühling einen Angelhaken in der Nase und das sah weniger schlimm aus, hat aber drei Tage lang geblutet.“
„Urgh ...“ erwiderte Nox bei der Vorstellung. Er wollte umkehren, aber es gab keinen Weg Erwald zu entkommen, ohne nicht doch noch seinen Argwohn zu schüren. Nun gut, dann würde er eben Ludwig treffen. Wie schlimm konnte es schon werden?
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Das Auge von Nox
FantasyZwanzig Jahre lang hatte Nox nach dem perfekten Ort gesucht, um Rache an jenem Abenteurer zu nehmen, der eines seiner Augen gestohlen hatte. Nun musste er noch das Vertrauen der Dorfbewohner gewinnen ... wären da nur nicht dieser Hunger auf Fleisch...