Die Morgensonne stieg langsam höher und tauchte die Hauptstadt der neun Provinzen in ein warmes, orangefarbenes Licht, das den alten Häusern und schmutzigen Gassen einen Hauch von Schönheit verlieh. Die meisten Fensterläden waren noch geschlossen und nur ein paar einzelne Händler waren zu hören, die ihre Waren in Richtung Marktplatz schoben oder sich bereits um die besten Plätze stritten. Am Rande des erwachenden Alltags stand eine kleine Gruppe, noch halb im Schatten der inneren Mauern. Gerade erst waren sie den Wachen entkommen und versuchten nun, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu ziehen. Doch die Straßen blieben weitgehend leer, noch schien niemand effektiv auf der Suche nach ihnen zu sein.
„Hm? Stimmt etwas nicht? Ihr seht ziemlich blass aus.“ Arthur hatte sich an Nox gewandt, der nach wie vor mit ihm, Lady Jane und Lord Jock in einer der unzähligen kleinen Gassen stand und unter den langen Ärmeln seines Gewands die Fäuste ballte. Seine Fingernägel drückten sich so fest ins Fleisch seines Handballens, dass ein dünnes Rinnsal an Blut auf die staubige Straße tropfte. Nox hörte Arthurs Worte nicht. In seinem Inneren tobte ein Wirbelsturm, der alles mit sich riss und in dessen Zentrum sich nur auf einen einzigen Gedanken fokussierte: „Ich werde ihn töten!“
„Arthur? Wer ist dein ... Freund?“ fragte Jane und schob ihren Gefährten unauffällig ein Stück zur Seite, da ihr der schwarzhaarige Bursche nicht ganz geheuer war.
Arthur zuckte mit den Schultern und erwiderte: „Ein Gefangener, so wie ich. Wir haben uns die letzte Nacht eine Zelle geteilt. Aber jetzt wo du es erwähnst...“ Er drehte sich von Jane zu Nox um. „...Ich kenne nicht mal euren Namen.“ Als Arthur keine Antwort erhielt, fragte er nochmal, mit einer Geduld und Höflichkeit, die Jane mit den Augen rollen ließ. Der Angesprochene reagierte mit schließlich doch noch, wenn auch mit einiger Verzögerung. Nox innerer Sturm verlor langsam an Kraft. Eine ganze Schar Gedanken gewann stattdessen schleichend die Oberhand. Angeführt wurden sie von *Er ist ein Hüne. Wenn ich es jetzt versuche, tötet er mich* gefolgt von *Ich habe keine Waffe, aber ich könnte ihn mit dem Talisman schmelzen. Dann tötet mich die irre aussehende Lady in dem grünen Kleid* und ganz hinten, langsamer als der Rest *Geduld ... ich warte nun schon so lange auf meine Rache. Ich bin ihr näher denn je. Ich muss den richtigen Moment abwarten…. Ich MUSS den richtigen Moment abwarten. Den RICHTIGEN Moment* Insbesondere den letzten Gedanken empfand Nox als äußerst frustrieren. Aber er hatte nun einmal recht, zumal der Gedanke ja auch von ihm selbst kam. Sich selbst zu widersprechen machte wenig Sinn. Er holte einmal tief Luft und setzte ein so dermaßen falsches Lächeln auf, dass Lord Jock irrtiert die Stirn runzelte.
„Entschuldigt. Ich war in Gedanken. Das Ergebnis hat mir nicht unbedingt gefallen.“ Er öffnete die Fäuste und wischte unauffällig das Blut innen ans einen Ärmel.
„Ja, zu viel Nachdenken kann schmerzen“ erwiderte Jock freundlich, woraufhin ihm Jane einen kleinen Schubs gab, der allerdings mehr Zustimmung als Missbilligung ausdrückte.
„Ihr habt euch nach meinem Namen erkundigt?“ Nox blickte fragend zu Arthur hoch und unterdrückte den Wunsch, ihm mit der Faust ins Gesicht zu schlagen oder die Fingernägel in seine Augen zu bohren.
„Ich heiße Nox.“
„Ein ungewöhnlicher Name“, erwiderte Arthur.
„Finde ich nicht. Ein ganz normaler Menschenname. Wie alle anderen.“ Nox räusperte sich umständlich und wechselte das Thema: „Was geschieht als Nächstes?“
„Das ist nun mein Stichwort‘ meldete sich Lod Jock: „Ich habe einen wichtigen Auftrag, den ich nur an die besten und vertrauenswürdigsten Abenteurer vergeben kann.“ Er warf einen Seitenblick auf Jane, die grummelnd die Arme verschränkt hatte.
„Ich entschuldige mich auch noch einmal in aller Förmlichkeit bei Lady Jane, für die Umstände, die ich ihr bereitet habe.“
„Eine Vorsprache bei meiner goldgierigen Drachen-Mutter ist wohl kaum nur ein „Umstand“ erwiderte Jane betont bissig, jedoch ohne wirklich Wut zu empfinden. Plötzlich erscholl hinter ihnen ein metallisches Klirren, wie von einer Rüstung. Ohne nachzudenken duckten sich alle noch ein bisschen tiefer in die Schatten der Mauern.
„Wir sollten aber zuerst die Stadt verlassen und uns einen ruhigeren Ort suchen, an dem wir alles besprechen können“ schlug Arthur vor und schaute sich, betont unauffällig nach Wachposten um. „Bevor wir wieder hinter eisernen Gittern landen.“
„Ich stimme dem zu“ murmelte Jane und fügte hinzu: „Wir müssen aber vorher noch Martha und Dodo abholen. Ich hatte für sie ein Zimmer in einem Gasthaus bezahlt.“
„Eigentlich habe ich habe das Zimmer bezahlt“ lachte Lord Jock.
„Und ich habe bei meiner Mutter nackt im Esszimmer gestanden. Wir haben alle Opfer bringen müssen“ erwiderte Jane und Arthur wurde ein wenig rot auf Wangen und Ohren.
„Oh...das ist eine sehr gute Idee! Lasst uns auch was zu Essen auftreiben, ich habe wirklich großen Hunger“ murmelte Arthur und Jane nickte knapp und ging voran, in Richtung der äußeren Mauern. Nox Innereien zogen sich schmerzhaft zusammen. Wann hatte er zuletzt etwas gegessen? In Nebelschleich, Brot und ein bisschen Käse. Kurz bevor er und Arabella ins Meer gestürzt waren. Wie es wohl Arabella ging? Und was war mit John? Je mehr er über die Beiden nachdachte, desto stärker spürte er den Wunsch sofort aufzubrechen und zurück nach Nebelschleich zu gehen. Das jedoch könnte Konträr zu seiner „in greifbare Nähe gerückten Rache“ stehen. Wohin würden Arthur und seine Gefährten reisen? Konnte er sie vielleicht überreden, ihn zu begleiten?
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Das Auge von Nox
FantasyZwanzig Jahre lang hatte Nox nach dem perfekten Ort gesucht, um Rache an jenem Abenteurer zu nehmen, der eines seiner Augen gestohlen hatte. Nun musste er noch das Vertrauen der Dorfbewohner gewinnen ... wären da nur nicht dieser Hunger auf Fleisch...