11. Türchen

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Heute war die Weihnachtsfeier meiner Firma und anstatt wie die Jahre zuvor abends Essen zu gehen, wollte die Personalabteilung diesmal etwas Besonderes machen. Deswegen gingen wir heute mittags erst gemeinsam Schlittschuhfahren, dann zum Aufwärmen zu einer Tasse Glühwein auf den Christkindlmarkt und dann weiter in ein Restaurant. Dass wir dort dann wahrscheinlich nachmittags um vier ankommen würden, war ihnen wohl egal. Sie hatten extra dafür den gesamten Arbeitstag ausfallen lassen. Normalerweise hätten wir alle noch bis sechzehn Uhr gearbeitet und wären dann gemeinsam los, aber nachdem wir uns heute schon mittags trafen, hatten die Chefs zugelassen, dass vorher niemand arbeiten musste.
Deswegen hatte ich heute gemütlich ausgeschlafen und gründlich gefrühstückt.

Ich freute mich auf die Weihnachtsfeier. Ich mochte meine Arbeitskollegen und die letzten Jahre, egal ob Weihnachtsfeier oder Betriebsausflug, waren immer sehr lustig, deswegen war ich mir sicher, dass es dieses Jahr auch wieder so werden würde.
Außerdem war auch Kalle dabei, da wir zwar nicht in derselben Abteilung arbeiteten, aber zumindest in derselben Firma.

Ich war schon bereit zu gehen. Ich war warm angezogen, aber nicht zu warm, damit ich dann später im Restaurant nicht schwitzen würde und mein Wintermantel und meine Mütze lagen auch schon bereit.
Ich hatte noch gute zwanzig Minuten, bevor ich los musste und überlegte nun schon seit ich heute morgen zu einem verpassten Anruf meiner Mutter aufgestanden war, ob ich sie zurückrufen sollte.

Mit einem knappen Seufzen drückte ich kurzerhand auf ihren Namen.

„Thilo, mein Liebling", hallte die helle Stimme meiner Mutter nach dem zweiten Tuten bereits durch den Hörer. „Wie schön, dass du endlich zurückrufst. Hast du zurzeit so einen Stress? Du hast dich ewig nicht gemeldet."

Vielleicht hatte ich den ein oder anderen Anruf meiner Mutter ignoriert. Ich wusste, dass im Notfall immer noch mein Vater probieren würde, mich zu erreichen, deswegen war mir klar gewesen, dass sie nur Smalltalk führen wollte.
Und wahrscheinlich über Weihnachten reden wollte.

„Ja, kurz vor Weihnachten ist in der Firma immer viel los. Das weißt du ja." Ich atmete angestrengt aus, um meine Lüge noch etwas realistischer klingen zu lassen.

Eigentlich war vor Weihnachten nie etwas los. Meine Firma hatte ab Mitte Dezember für drei Wochen Betriebsurlaub und die wenigen Tage vorher, waren dann vielmehr nur noch das Auslaufen lassen des Alltagsbetriebs, weil eh jeder wusste, dass wir dann Betriebsurlaub hatten. Da fing niemand mehr was großes an.

Nur meine Mutter wusste das nicht. Ich hatte ihr nie etwas vom Betriebsurlaub erzählt oder davon, dass ich im Dezember eigentlich keinen Stress hatte. Aber anders würde sie nur versuchen, mich irgendwie nach Hause zu holen und das wollte ich mit allen Mitteln verhindern.

Da war ich mir dann auch nicht zu schade, eine Notlüge über Jahre hinweg aufrecht zu halten.

„Ja, stimmt", kam es daraufhin etwas geknickt von ihr. „Ich hoffe, du hast nicht zu viel Stress. Aber vielleicht kannst du mit den angehäuften Überstunden dann schon ein paar Tage früher Urlaub machen und über Weihnachten zu uns kommen. Was hältst du davon, Liebling?" Ihr Enthusiasmus tat mir fast leid. Es war schön sie so hoffnungsvoll zu hören, aber zu wissen, dass ich das gleich zunichte machen würde, ließ mich unruhig am Sofa hin und her rutschen.

„Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Du weißt doch, zu Weihnachten bekommen die mit Kindern vorrangig Urlaub."

Das ließ sie wieder Seufzen, ehe sie genauso enthusiastisch weiter redete. „Aber hier sind auch Kinder, die sich über deinen Besuch freuen würden."

Das ließ nun mich seufzen. Das war doch klar...

„Wie viele sind denn da?", fragte ich weniger aus Interesse als blanker Neugier. Es interessierte mich kein Stück, was Mama zuhause trieb, aber ich wollte deswegen trotzdem wissen, wie voll das Haus schon wieder war.

„Vier Kleinkinder, zwei Teenager und drei Senioren. Und deine Tante möchte vielleicht vorbeikommen."

Meine Tante würde ganz sicher nicht vorbeikommen. Sie hatte sich schon oft angekündigt, weil sie an sich gerne Zeit mit ihrer Schwester verbringen wollen würde, aber die Menge der anwesenden Kinder hielt sie dann doch jedes Mal aufs neue wieder davon ab.

In dem Punkt waren meine Tante und ich uns völlig einig. Ich würde auch nach Hause fahren, wenn meine Mutter nicht schon genügend Kinder haben würde, die sie zu Weihnachten besuchten. Denn es kam gar nicht so selten vor, dass ehemalige Kinder, die längst erwachsen waren, trotzdem noch über Weihnachten zu meinen Eltern fuhren.
Ich konnte es ihnen nicht einmal übel nehmen, immerhin hatte sie selbst keine Familien, die sie besuchen könnten, trotzdem fand ich persönlich das einfach nur angestrengt. Fremde Erwachsende, die so taten, als wären meine Eltern ihre Eltern, obwohl alle Beteiligten wussten, dass das nicht der Fall war.

„Ah", entkam es mir. Also wieder full House. „Wie alt sind die Kleinkinder?"

„Zwei, vier und zwei Dreijährige. Sie sind alle so süß." Und damit war unser Gespräch über Weihnachten vergessen, weil meine Mutter sich immer mehr in eine Lobeshymne über die Kleinkinder vertiefte. Anfangs brummte ich noch zustimmend, aber ab Minute fünf hörte ich ihr nur noch mit halben Ohr zu und machte mir nebenbei eine Tasse Kaffee.

„Max, hörst du mir überhaupt zu?", kam es irgendwann aus dem Hörer, während mein Kaffee längst eine trinkbare Temperatur erreicht hatte.

„Max?", fragte ich entnervt nach. Noch so eine negative Nachwirkung, wenn die eigenen Eltern viele Kinder in ihrem Leben hatten. Den richtigen Namen für das einzige leibliche Kind zu finden, war dann gar nicht mehr so einfach.

„Ach, Max, entschuldigte. Natürlich nicht, Liebling. Wie geht es dir, Paul? Erzähl mal, wie läuft es in der Arbeit? Wie sind deine Pläne für Weihnachten? Kommst du vorbei?"

„Mama, mein Name ist Thilo. Und nein, ich werde es wahrscheinlich nicht schaffen, das haben wir doch gerade schon besprochen. Ich werde mir nicht Urlaub nehmen können. Irgendwelche Pflegekinder hin oder her." Ich konnte nicht verhindern, dass mein Ton spitzer klang. Dass es viele Kinder gar, die wichtiger waren als ihr Sohn, ok, damit hatte ich mich mittlerweile abgefunden, aber dass sie trotzdem immer noch über meinen Namen stolperte, ärgerte mich sehr.
Und versetzte dem Kind in mir gleichzeitig einen Stich.

Meine Worte ließen sie jedoch aufjapsen. „Irgendwelche Pflegekinder? Aber hör mal! Das sind deine Geschwister!"

Dass diese fremden Kinder ganz sicher nicht meine Geschwister waren, war jedem, außer meiner Mutter, klar. Sie klammerte sich aber, warum auch immer, fest daran.

Deswegen begann ich auch gar nicht erst zu diskutieren. Dieses Thema hatten wir schon viel zu oft und jedes Mal hatte ich mich dann wieder entschuldigt, damit wieder Frieden zwischen uns herrschte, obwohl mich kleinerlei Schuld traf.
Mittlerweile war ich das Streiten aber einfach leid, deswegen lebte ich mit ihrer desillusionierten Art und beschränkte den Kontakt auf ein Minimum.

„Ok, Mama. Ich muss jetzt auflegen. Tschüss und bitte richte Papa schöne Grüße von mir aus."

Ohne auf ihre Antwort zu warten, legte ich auf.

Dann konnte ich einfach nur noch den Kopf schütteln und mir meinen Mantel überziehen. Ich war zwar immer noch viel zu früh dran und hätte noch genügend Zeit, aber ich wollte jetzt nicht mehr länger untätig in meiner Wohnung sitzen. Da würde ich nur über meine Eltern nachdenken müssen und das wiederum würde mich nur ärgern. Das konnte ich heute nicht gebrauchen.
Nachdem ich mir noch eine Mütze übergezogen hatte, tasteten meine Finger automatisch nach der Schachtel in meiner Manteltasche. Erst als ich sie sicher spüren konnte, verließ ich meine Wohnung.

Xmas with the ConradsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt