8. Türchen

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Die Arbeit hatte mir die letzten zwei Tage viel abverlangt, weshalb ich mich auf einen ruhigen Mittwochabend zuhause gefreut hatte. In meinem Kopf war bereits die Idee von einer Tiefkühlpizza und einem Bier gereift, als Rosalie mich angerufen hatte, während ich gerade auf dem Heimweg war.

Ich hatte mich sehr gefreut, als Rosalie mich gefragt hatte, ob ich nicht Zeit und Lust hätte, mit ihr auf den städtischen Christkindlmarkt zu gehen. Ihr Mann war die Woche unterwegs und alleine zuhause viel ihr langsam die Decke auf den Kopf.

Dafür gab ich meinen Mittwochabend gerne her. Vor allem hörte sich ein Glühwein bei diesen eisigen Temperaturen viel verlockender an, als ein Bier. Und selbst wenn Tiefkühlpizza eh schnell zubereitet war, freute ich mich jetzt doch mehr auf eine schnelle Bratwurst.

Die Bratwurst dampfte heiß in meinen Händen und erfüllte meinen Körper allein beim Anblick schon mit Wärme. Ich konnte es kaum erwarten, gleich hineinbeißen zu können, wenn sie etwas abgekühlt war. Auch mein Glühwein dampfte noch mindestens genauso heiß, was beides ziemlich an meiner Geduld nagte. Ich merkte selbst, wie ich durch die letzten Arbeitstage nicht sehr ausgeglichen war.

Rosalies Sohn brabbelte im Kinderwagen neben mir vor sich hin, während Rosalie selbst noch am Crêpestand in der Schlange wartete. Der kleine Racker war echt süß. Bisher hatte ich ihn noch nicht so oft gesehen, immerhin war er auch erst knapp ein halbes Jahr alt. Trotzdem hatte ich ihn, genauso wie die anderen Kinder meiner Freunde, längst in mein Herz geschlossen.

Als er etwas quengelig wurde, begann ich seinen Kinderwagen etwas vor und zurück zu schaukeln, was gleich Wirkung zeigte und ihn zu beruhigen schien. Mit großen Augen beobachtete er mich dabei aus seinem Wagen heraus.

„War er die ganze Zeit über so ruhig?", fragte Rosalie als sie Minuten später mit ihrem Crêpe zurückkam und gleich einen Blick in den Kinderwagen schmiss. Das brachte ihren Sohn wieder dazu, vor sich hin zu brabbeln.

„Jup", antwortete ich und hielt prüfend die Hand über meine Glühweintasse, ehe ich vorsichtig dran nippte. Es war immer noch heiß, aber wenn ich vorsichtig nur kleine Schlücke trank, dann würde das schon gehen. Zwar protestierte meine Zunge bei jedem Schluck, aber der süße Geschmack, der sich auf meinen Geschmacksknospen ausbreitete, machte das gleich wieder wett.

„Du hast echt ein Händchen für Kinder", lachte Rosalie. „Er quengelt mehr als dass er mal still ist... Außer hier mit dir anscheinend. Aber kein Wunder. Die Zwillinge und Ella lieben dich ja aus vollem Herzen. Ich bin mir sicher, dass es bei ihm nicht anders sein wird."

„Ich gebe mir Mühe", lächelte ich und warf einen weiteren Blick auf das Baby.

Ich wusste, dass ich gut mit Kinder konnte. Das war schon immer so und kam wahrscheinlich daher, dass ich in einer großen Familie aufgewachsen war.

Also nein, eigentlich nicht. Eigentlich gab es nur mich und meine Eltern, wäre da nicht der große Drang meiner Mutter, Menschen zu helfen, indem wir nicht nur andauernd neue Pflegekinder zuhause gehabt hatten, sondern teilweise auch Senioren. Früher in der Grundschule war ich das Kind mit den unendlichen Geschwistern und den zahlreichen Großeltern, das von den Kindern deswegen ausgelacht wurde, während mir Erwachsene immer begeistert berichtet hatte, wie toll doch die Arbeit meiner Mutter war.

Man konnte sich, glaube ich, unschwer vorstellen, dass ich deswegen nicht die glücklichste Kindheit hatte. Nicht nur, dass ich mein Zimmer und meine Spielsachen mit zahlreichen Kindern jedes Alters teilen musste und in gewisser Weise ihr Aufpasser wurde, ich musste auch meine Eltern teilen und damit konnte ich als Kind nie umgehen. Vor allem, weil meine Mutter erst damit angefangen hatte, als ich bereits acht Jahre alt war. Vorher gab es nur mich und meine Eltern, ich kannte es nicht anders. Bis sich dann von einem Tag auf den nächsten alles geändert hatte, ohne, dass sich jemals jemand die Mühe gemacht hätte, sich mit mir an einen Tisch zu setzen und darüber zu reden. Ich war immerhin doch schon acht Jahre alt, also in einem Alter, in dem man mit einem Kind gut reden konnte.

Ja, das was meine Mutter da tat, war wirklich besonders und ich hieß es auch gut, unterstützte ihre Organisation monatlich mit Spenden und half ihr dabei Unterstützer zu bekommen. Trotzdem war das Verhältnis zu meinen Eltern sehr zerrüttet.

Ein Grund mehr, warum ich froh war, dass ich die letzten Jahre Weihnachten immer mit meinen Freunden gefeiert hatte. Weihnachten bei meinen Eltern war alles, aber nicht besinnlich. Es war Stress pur mit so vielen unterschiedlichen Kindern und Erwachsenen. Weihnachten bei meinen Eltern war immer Chaos und wann immer ich dort war, wurde ich lediglich als Küchenjunge oder Baumschmücker eingespannt. Wirklich Zeit mit meinen Eltern konnte ich dort nicht verbringen.
Deswegen mied ich es dort zu sein.

„Die Schwester von Tom kommt über Weihnachten zu uns und sie halt selber ein Baby in seinem Alter. Sie ist nur zwei Wochen jünger. Ich bin gespannt, wie es da dann wird. Mit so vielen Menschen und dann auch noch ein zweites Baby... Hoffentlich wecken sie sich nicht gegenseitig mit ihrem Geschrei." Rosalie seufzte angestrengt. Ich hatte über Tom, ihren Ehemann, schon mitbekommen, dass ihr Sohn nicht der Einfachste war. Er schlief schlecht und hatte zudem ein lautes Organ. Dementsprechend ausgelaugt sah Rosalie auch aus. Deswegen konnte ich es auch gut nachvollziehen, dass sie seit der Geburt nicht so viel Zeit für andere Dinge habt hatte.

„Toms Schwester kommt über Weihnachten?", fragte ich interessiert nach. Derweil schwante mir bereits Böses. Das hörte sich fast so an, als würde Rosalie nicht nur über die Weihnachtsfeiertage reden, sondern auch über Heilig Abend.

„Oh", kam es auf meine Frage zurück. „Ja, äh..." Sie biss in ihnen Crêpes, um sich damit wohl etwas Zeit zum Antworten zu sichern. Auch ich biss derweil in meine Bratwurst, doch irgendwie schmeckte sie jetzt nicht mehr so lecker. Stattdessen kam mir ungewollt die Frage in den Sinn, ob in der Zigarettenschachtel in meiner Manteltasche noch Zigaretten waren.

„Toms Schwester hat gefragt, ob wir Weihnachten zusammen feiern möchten. Deswegen kommen sie am 23. schon zu uns und am 25. kommen dann seine Eltern auch dazu und am 26. dann meine Eltern. Da wäre es irgendwie seltsam, wenn ihr auch alle da seid, ihr kennt ja Toms Schwester gar nicht, deswegen passen Tom und ich heuer unser gemeinsames Weihnachten."

Ich nickte nur. Der Schmerz, den ich schon bei Kalles Absage gespürt hatte, wieder deutlich präsent.

„Nächstes Jahr können wir ja dann wieder zusammen feiern. Für Ella und die Zwillinge ist es eh besser, wenn kein Baby dabei ist. Dann brauchen sie auch nicht so viel Rücksicht nehmen." Sie lächelte mir breit entgegen, als wäre ihr Argument so gut, dass es das gleich wieder wett machen würde.

Anscheinend wusste sie nichts davon, dass Kalle dieses Jahr auch nicht da sein würde.

Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich ihr von Kalles Plänen erzählen sollte, ließ es aber dann. Ich wollte nicht herausfordern, dass sie mich aus Mitleid doch zu ihrem Familienweihnachten einlud.
Rosalie wusste nämlich, wie viel mir an unserem gemeinsamen Weihnachten lag. Alle meine Freude wussten, wie ungern ich an Weihnachten zuhause war und nachdem ich keinen festen Partner hatte, mit dem ich Weihnachten hätte feiern können, blieben für mich nicht viele Optionen offen, wie ich das Fest verbrachte. Deswegen hatte Kalle auch so ein schlechtes Gewissen, als er mir von seinen Plänen erzählt hatte.

„Wollen wir nach dem Essen noch bei der Bühne vorbeischauen? Heute singt der Kinderchor", wechselte ich, nach einem zustimmenden Nicken, einfach das Thema. Zum Glück sprang Rosalie darauf gleich an und begann begeistert von einem anderem Kinderchor zu erzählen, den sie letztens gehört hatte. Ich aß unterdessen meine Bratwurst fertig und gönnte mir dann zu meinem restlichen Glühwein endlich meine Zigarette.

Dafür erntete ich zwar einen überdeutlichen Seitenblick von Rosalie, aber da ich so stand, dass der Wind den Rauch vom Kindergarten wegließ, sagte sie nichts dazu. Ihr Blick kümmerte mich aber auch recht wenig. Ich wusste, dass keiner meiner Freunde diese Angewohnheit gut fand. Deswegen würde ich es aber nicht ändern.

Nachdem wir also unser Essen gegessen hatten und ich meine Glühweintasse wieder zurückgebracht hatte, bahnten wir unseren Weg durch den, für einen Mittwochnachmittag, doch recht vollen Christkindlmarkt bis hin zur Bühne, auf der etwa fünfzehn Grundschuldkinder standen und ein Weihnachtslied nach dem anderen trällerten, während sich längst eine Traube um sie gebildet hatte.

Xmas with the ConradsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt