3| Louis

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Gierig atme ich die frische Luft ein, während ich über die berühmte Terrasse Dufferin in Québec Stadt schlendere. Von hier aus hat man den besten Blick auf den Sankt Lorenz Strom und die Laubbäume an seinem Ufer, deren Blätter im Indian Summer in den schönsten Farben des Herbstes leuchten. Ich habe noch eine Viertelstunde, bevor die Stadtführung beginnt, die die Uni organisiert hat. Zeit genug also, um mich auf eine der Bänke auf der hölzernen Terrasse zu setzen und den Ausblick zu genießen. 

"Magnifique, tu penses pas?" Herrlich, findet du nicht? 

Ich zucke leicht zusammen, als sich plötzlich jemand neben mir niederlässt. Allerdings nicht irgendjemand, sondern ein junger Mann mit den wuscheligsten, kastanienbraunen Haaren, die ich je gesehen habe. Seine grauen Augen sehen mich neugierig an, während ich ihn meinerseits von Kopf bis Fuß mustere. Mit seinem dunkelgrünen Strickpulli und der Jeans passt er perfekt zur Herbstlandschaft um uns herum, während ich mit meinem bunten Riesenschal und den gefütterten Stiefeln eher wie eine Vogelscheuche daherkomme. Und natürlich war ich mit den Gedanken woanders, als ich mir meinen französischen Zopf geflochten habe und es stehen überall Haare ab. Mein Selbstbewusstsein sinkt schneller in den Keller, als ich "Julie, du Chaotin" denken kann. 

"Oui, très magnifique!", antworte ich mit zitternder Stimme und schenke dem Fremden ein Lächeln, das vermutlich eher an eine Grimasse erinnert. Er scheint mir das zum Glück nicht übel zu nehmen, denn er lächelt zurück. Das Herz rutscht mir in die Hose, denn das Lächeln des jungen Mannes ist atemberaubend. So schlicht und natürlich und dennoch so geheimnisvoll und sexy. Auf einmal fühle ich mich leicht wie eine Feder, die über die Terrasse schwebt und dabei vor Freude Loopings in der Luft dreht. 

"Ich würde gerne noch eine Weile hier neben dir sitzen bleiben, aber ich leite jetzt eine Stadtführung", holt mich die ruhige Stimme des Fremden plötzlich zurück auf den Boden der Tatsachen.

Stadtführung? Wie, was? Gibt es solche Zufälle wirklich?

"Die Stadtführung für die Uni? Da mache ich auch mit!", stammle ich in gebrochenem Französisch und springe wie von der Tarantel gestochen von der Bank auf. Oh Gott. Der hübsche Kanadier ist unser Tourguide. Ich darf noch mindestens zwei Stunden mit ihm durch Québec laufen, zwei Stunden, in denen ich in seinen grauen Augen versinken kann. Danke, Schicksal. Manchmal hat selbst so eine ins-Fettnäpfchen-Treterin wie ich Glück. 

"Wirklich? Das ist ja phantastisch! Ach Entschuldigung, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Louis, und du?" Der junge Mann zieht neugierig die Augenbrauen hoch, woraufhin es in meinem Bauch zu flattern beginnt. 

"Julie", entgegne ich und bemühe mich, ganz cool zu wirken, was natürlich nicht klappt. Louis muss mich für den nervösesten schrägen Vogel in ganz Nordamerika halten. Wenn er nur nicht so verdammt süß wäre! Und jetzt streicht er sich auch noch eine Haarsträhne aus dem Gesicht wie eines der Burberry Models. Wäre ich meine Freundin Annika, würde ich ihn jetzt gleich ohne Vorwarnung mit Haut und Haaren verschlingen. Nur leider bin ich nicht Man Eater Annika, sondern die unsichere Julie, die auf ihren Social Media Profilen zwar immer selbstbewusst tut, aber in Wahrheit lieber brav neben dem Telefon auf Anrufe wartet anstatt selbst einen Typen aufzureißen.

"Julie. Ein sehr schöner Name. Könnte auch Französisch sein!", lässt Louis die Schmetterlinge in meinem Bauch erneut losfliegen. "Dann machen wir uns mal auf den Weg zum Treffpunkt!" Er deutet zum Château Frontenac, dem schlossähnlichen Hotel an der Terrasse und dem Wahrzeichen von Québec Stadt, und wir laufen gemeinsam los. 

Vor dem Château wartet mittlerweile eine Traube Austauschstudenten aus aller Welt auf uns. Unter ihnen sind junge Frauen, die eifrig ihre Smartphones griffbereit halten, sommersprossige Jungs, die nicht älter als 17 wirken und mit großen Augen das Hotel bestaunen und der Superstudent mit dem gezückten Notizblock, der seinen Eltern am Telefon nachher vermutlich einen Vortrag über die Geschichte der Stadt halten wird. 

Verliebt in einen QuébécoisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt