Kapitel 9 - Das Übergeordnete Obergeschoss

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Vor Abbas tat sich ein weiter Abgrund auf. Es war nicht das erste Mal, dass er in eine tiefe Grube starrte, aber diesmal konnte er keinen Boden erkennen. Nur schwarze Leere, in denen sich nicht einmal die leuchtend blauen Nebelschwaden wagten, die um sie herumwaberten. „Irgendeine Idee, wie wir da rüber kommen sollen?“, fragte Goal und wippte mit den Zehen auf und ab. „Ich hätte ein Seil“, schlug Mia vor und kramte in ihrem Rucksack. „Und was sollen wir damit machen? Seiltanz?“, fragte Elaine und musterte den Gang, in dem sie gelandet waren.
Hinter ihnen erstreckte sich der halb verfallene Weg aus umgestürzten Holzsäulen und zerrissener Tapetenstreifen, durch die sie sich mit Mühe und Not gekämpft hatten, und vor ihnen, hinter diesem Loch im Boden, erspähte sie die Tür, die sie hoffentlich endlich ans Ziel bringen würde. Dazwischen war nichts. Kein loses Brett, kein Nagel, oder Balken, an dem sie das Seil hätten befestigen können. Und selbst wenn… Elaine stellte es sich mehr als schwierig vor, Abbas mit Mias Seil heil über die andere Seite zu bringen, denn es sah schon zu dünn für die Elfe aus, von einem Loxodon mal ganz zu schweigen.

Vielleicht könnte einer ihrer Zauber helfen?

„Ich habe eine bessere Idee“, murmelte Abbas und trottete den Gang zurück zu dem Schutthaufen. Dann schlang er seinen Rüssel um eine der Säulen und versuchte, sie anzuheben. „Vielleicht können wir damit eine Brücke bauen“, ächzte er und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Säule. Sie bewegte sich nicht. Wie ein schräger Baum verband sie Decke und Boden miteinander und schien nicht darauf erpicht zu sein, in nächster Zeit als Brücke zu dienen. Goal und Mia sahen sich an und nickten. „Gute Idee, Abbas!“, feuerte Mia ihren Gefährten an und die beiden Halblinge machten sich daran, ihm zu helfen. „Wartet“, fiel Elaine ihnen in die Arbeit. Sie machte eine rasche Handbewegung und murmelte eine kurze Formel, da erhob sich über Abbas Kopf eine große, sanft leuchtende Hand, die sich ebenfalls um die Säule schlang. „Hey! Das kann ich auch!“, rief Goal aufgeregt und eine zweite Hand erschien wenige Augenblicke später. „Okay, auf drei!“ Abbas begann zu zählen und mit einem Ruck rieselte der Staub von der Decke und die Säule war frei.
Nun war es ein leichtes, sie über den Abgrund zu rollen und es reichte gerade so, dass eine schmale, aber dennoch stabile Passage für die Abenteurer entstand. „Ja!“, rief Goal triumphierend und hob ihre Hand. „Wir sind super!“ „Seh ich genauso“, meinte Mia und schlug ein. Auch Elaine nutzte ihre Chance: „Los Team!“ So zermürbend das Ganze auch war, wenigsten war die Gesellschaft gut. Es war beruhigend für Elaine, dass ihre Mitreisenden sie nicht unnötig ausfragten, oder irgendwelche Erwartungen an sie stellten. Sie hatte das Gefühl, dass, auch wenn sie nicht viel über die Einzelnen wusste, sie alle irgendwas mit sich herumtrugen, und einfach akzeptierten, dass es bei ihr genauso war.

Ein Kloß bereitete sich in ihrem Hals aus, als sie an Zuhause dachte. Der Abschied war ihr nicht leicht gefallen, oder doch? Manchmal war sie sich nicht so sicher.
In Gedanken versunken, bemerkte die Elfe fast gar nicht, dass sie über das Loch balancierte, oder dass Goal sie bei der Hand nahm und mit sich zog, oder dass sie die nächste Tür erreicht hatten, die sie weiter hinein führen würde.
Erst, als sie den Sand unter ihren dünnen Sohlen, den Wind in ihrem blauen Haar und die salzige Meeresbrise auf ihrer Haut spürte, atmete sie tief durch und besann sich.

War sie nicht eben in einem Haus gewesen? Wo waren ihre Gefährten? War das alles nur ein Tagtraum gewesen? Sie schaute an sich hinunter. Es musste ein Traum gewesen sein, denn ihre Kleidung war im Traum ganz anders gewesen. Sie blinzelte in den Sonnenuntergang, der den Himmel über dem Meer in ein Spektakel aus Farben tauchte und blickte sich um. Der Strand war leer, bis auf ein kleines Lagerfeuer, das nahe einiger Dünen in einem aus Steinen geformten Kreis im Sand brannte.

An dem Lagerfeuer saß eine Gestalt. Elaine brauchte ein paar Minuten, um zu realisieren, wer da saß, ehe ihr Herz so laut pochte, wie noch nie in ihrem Leben. „Das kann nicht sein“, flüsterte sie, aber ihre Füße setzten sich schon von alleine in Bewegung.
Als sie kaum zwei Meter von den Flammen entfernt war, sprang die Person auf einmal auf und rannte mit einem großen Lächeln im Gesicht auf sie zu: „Elaine! Ich dachte, du kommst nicht mehr!“ Er war noch so, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Ihr Bruder hatte sich kein bisschen verändert: Groß, Schmal, das dunkle Haar ihrer Mutter, die dünnen Hände, mit denen er seitdem er klein war schon Wunder am Klavier und der Geige vollbrachte… Lee war der Stolz ihrer Eltern und für sie der beste große Bruder der Welt. Er hatte sie nie klein geredet, nie missbilligt, nie ihre Entscheidung zu gehen verurteilt.
Sie wollte doch gehen, was tat sie dann hier?

„Hier schau“, Lee wedelte mit einem Papier vor ihrer Nase herum. „Was ist das?“, fragte Elaine. Ihre Stimme klang weicher und leiser als sonst. Nicht auch ein bisschen langsamer? „Das ist unser Fahrschein. Damit sind wir endlich frei.“



Goal lief nun schon gefühlte Ewigkeiten den Strand entlang. Sie war sich nicht sicher, wie sie hierher gekommen war, aber es musste doch einen Ausweg aus dieser Lage geben? Erschöpft wischte sie sich übers Gesicht und sank in den Sand. Die letzte Wärme des Nachmittages wurde vom kalten Licht des Mondes aus den Körnern gesogen und das monotone Geräusch der Wellen machte sie schläfrig. „Goal.“ Die Stimme und die dazugehörige Person, die ihre Hand auf die Schulter der Halbling legte, ließen Goal zusammenschrecken. Sie hob ruckartig ihren Kopf und ihre Augen weiteten sich ungläubig, als sie die Halbling erblickte, die sich nun neben sie in den Sand setzte. Sie hatte die gleichen roten Haare wie sie, ihre Augen waren nur ein kleines bisschen mehr Moosgrün, und ihre Sommersprossen ließen ihre Wangen strahlen. „Alyssa“, hauchte Goal den Namen ihrer Schwester. Aber Alyssa war doch tot? Sie war dem Angriff nicht entkommen. Nicht so wie Goal. Entgeistert starrte sie die Person neben sich an und rutschte vorsichtig ein Stück weg. Alyssa lachte leise und schaute aufs Meer hinaus: „Ich habe dich vermisst, Schwesterchen. Ich dachte, du kommst gar nicht mehr nach Hause.“ Nach Hause? Goal wusste nicht, wovon ihre Schwester – wenn es denn ihre Schwester war – sprach, aber diesen Strand hatte sie ganz sicher noch nicht gesehen. Sie wollte aufstehen und wegrennen, irgendetwas tun, aber sie konnte nur sitzen und die Halbling neben ihr anschauen. Es war nicht fair, dass ihre Schwester gestorben war. War sie etwa auch gestorben? War das das Jenseits?
Alyssa zog einen kleinen Lederbeutel hervor und holte etwas heraus. „Ich habe etwas für dich“, sagte sie und streckte Goal das Gesuchte entgegen. Es war ein kleines Papier. Zitternd nahm es Goal ihrer Schwester ab und begann mit wirren Gedanken zu lesen.



Abbas schluckte. So sehr er es auch glauben wollte, das hier konnte einfach nicht real sein. Der Strand war zu warm, das Meer zu laut und die Person, die vor ihm stand, war unmöglich sein alter Lehrer. „Meister?“, stammelte er und fühlte sich wie der verlorene Krieger, der er vor mehr als fünfzig Jahren gewesen war. Die Augen des Alten glänzten wie Honig in der untergehenden Sonne und er schenkte dem Loxodon ein so sanftes Lächeln, dass Abbas sich schuldig fühlte, dass er nicht zurücklächeln konnte. „Mein Schüler! Du bist diesen weiten Weg gekommen, nur um mich zu sehen? Wie schön!“ Abbas schüttelte den Kopf: „Das kann nicht sein… Ich war, ich bin-“ Die Gedanken in seinem Kopf schwirrten hin und her, es war kaum zu ertragen. Wo war er nochmal?
„Keine Sorge, mein Schüler. Der Krieg ist vorrüber, die Wolken lösen sich auf. Wir können neu anfangen. Du und Ich. Wir können uns den Teeladen aufbauen, den du dir immer gewünscht hast!“ Der Meister legte Abbas eine Hand auf die Schulter. Sie fühlte sich so real an, aber alles in Abbas zog sich zusammen. „Sieh her. Das ist deine Zukunft!“
Ein kleiner Papierflyer erschien in der Hand des Lehrmeisters und er reichte es dem überraschten Loxodon.



„Mia, wach auf!“, rumpelte es durch ihren Kopf und Mia fühlte, wie sie von groben Händen geschüttelt wurde. „Nicht doch, Jorri, du tust ihr weh!“, schaltete sich eine zweite Stimme dazu. Jorri schnaubte: „Ach was. Sie ist unsere Tochter. Sie ist stark!“ Mia blinzelte und schlug die Augen auf. Wo war sie? Sie brauchte einen Augenblick, um sich aufzurichten und hielt sich den schmerzenden Kopf. Zwei besorgte Gesichter schoben sich in ihr Sichtfeld und versperrten den wunderschönen Sonnenuntergang. Erschrocken krabbelte Mia ein paar Zentimeter zurück. Vor ihr standen ihre Zieheltern – die beiden Zwerge Jorri und Helga. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Helga mütterlich und kniete sich neben Mia in den Sand. „J-ja?!“, brachte Mia hervor und blickte sich um. War sie gestürzt? Was war passiert? „Wo sind wir hier?“, fragte sie. Jorri tauschte einen Blick mit Helga, der soviel hieß wie „Sie ist nicht in Ordnung“, dann kniete er sich neben seine Frau und nahm Mias Hand. „Wir sind an deinem Lieblingsstrand, Schätzchen. Erinnerst du dich nicht? Hier wollen wir gleich auf ein Schiff.“ „Was für ein Schiff?“ Mia konnte sich nicht daran erinnern, irgendetwas davon schon einmal gehört zu haben. Sie hatte ja nicht einmal einen Lieblingsstrand. „Das Schiff, mit dem wir endlich hier wegkommen. Wo wir in Sicherheit sind. Wo wir eine richtige Familie sein können. Weißt du nicht mehr?“, fragte Helga und klang verzweifelt. In Sicherheit. Was für ein schöner Gedanke.
Jorri kramte in seiner Hosentasche. „Hier“, sagte er und zog einen zerknitterten Zettel heraus, den er Mia reichte, „Ich habe hier noch den Flyer.“



„UtiliA“ stand in großen Buchstaben auf dem Papier. Darunter war eine kleine Sonne und ein Segelboot abgebildet. „Die Stadt des Glücks, des Neuanfangs und der ewigen Freiheit“, konnte man darunter lesen.

„Was ist-“, Goal stockte der Atem. Die Wellen hatten aufgehört zu schlagen, der Wind wehte stürmischer, aber aus einer anderen Richtung.

Auch Abbas hatte es bemerkt. Vorsichtig ging er einen Schritt zurück. „Du bist nicht echt“, sagte er zu der Gestalt vor ihm und legte die Hand an seinen Waffengurt. Wo kam der her? Den hatte er doch bis gerade eben nicht getragen?

„Woher weißt du, dass du Lee bist?“, fragte Elaine. Ihr Bruder lächelte: „Wer soll ich denn sonst sein?“ „Beweis es.“ „Wie?“ „Was ist sein größter Wunsch?“ Das Lächeln aus dem Gesicht der Gestalt verschwand. „Was soll das?“ „Was ist sein größter Wunsch?“, beharrte Elaine und wich zurück. „Meisterhafter Virtuose werden“, antwortete ihr Nicht-Bruder und seine Pupillen zuckten nervös hin und her. Elaine festigte ihren Stand und ging in Angriffsposition: „Falsch.“

„Ihr seit doch… Warum seit ihr noch hier. Ich muss euch beschützen. Ihr müsst gehen!“, rief Mia und versuchte aufzustehen. Jorri hielt sie fest: „Nein. Wir wollen bei dir bleiben. Wir sind doch eine Familie.“ „Du willst es doch auch“, meinte Helga. Sie streckte die Hand nach Mia aus und bohrte ihre Fingernägel in ihren Unterarm. Die Halbling schrie auf und schüttelte dir Zwerge ab. „Nein“, dachte sie bei sich, „Das kann nicht sein. Sie würden mich nie zu etwas zwingen, was ich nicht wollen würde.“

Mia stand auf und rannte los. Einfach irgendwo hin. Ihre Glieder schmerzten, ihr Kopf tat weh, und der Horizont verschwamm vor ihren Augen, aber sie musste weiter. Und dann endlich: Mit einem großen Krachen zerbarst die Welt vor ihren Augen in milliarden leuchtender Funken und Mia verlor das Bewusstsein.



„Abbas?“, eine helle Stimme klang an das Ohr des Loxodons. Er richtete sich verwirrt auf. Kein Strand, kein Meister, nur der leere, heruntergekommene Gang lag vor ihm. Und an seiner Seite zupfte Elaine vorsichtig an seiner Rüstung. „Mir geht es gut“, sagte er und richtete sich mühsam auf. Goal saß auf dem Boden und starrte an die Wand, Mia hatte sich neben sie gestellt und polierte einen ihrer Dolche an ihrer Kleidung. „Und bei euch?“ Alle nickten mehr oder weniger zustimmend. „Hey“, murmelte Goal heiser, „Wollt ihr darüber reden, was passiert ist?“ „Nicht wirklich“, antwortete Elaine und biss sich auf die Unterlippe. Es war klar, dass sie ungefähr das Gleiche erlebt haben mussten. Elaine hoffte nur, es war für die anderen nicht auch genauso enttäuschend wie sie. Wut kochte in ihr auf. Was war das nur für ein Horrorhaus? „Ich auch nicht“, schloss Goal ihre Frage und kam ächzend und mit Mias Hilfe auf die Beine. „Weiter geht’s.“

Schweigend folgte die Truppe der Halbling durch den nun engen, kaum beleuchteten Gang. Hier lebte keine blaue Magie, es schien irgendwie kalt und ausgestorben. Abbas versuchte, die Gedanken und Gefühle an seinen Meister und seine Vergangenheit zu verdrängen. Jetzt war nicht die Zeit, um nachdenklich zu sein. Ein Blick auf seine Reisegefährten machte ihm jedoch bewusst, dass sie auch zu kämpfen hatten, das erlebte zu verarbeiten. Er beschloss, nach diesem Abenteuer für alle einen entspannenden Tee zu kochen und seine Laune besserte sich ein wenig.

Schmale Stufen führten hinauf, in den wievielten Stock auch immer. Mia hatte aufgehört zu zählen. Sie wollte ins Bett und schlafen, es fühlte sich an, als wären sie schon eine Ewigkeit in diesem Haus gefangen und so langsam fragte sie sich, ob es hier überhaupt ein Ziel gab.
Nach einer Weile, vielen Stufen und Biegungen und einem immer niedriger werdenden Gang, der Abbas ins Schwitzen brachte, standen sie nun vor einer weiteren Tür. Goal zögerte, als sie den Türgriff berührte. Wo war das nächste Rätsel, was sie in den Wahnsinn treiben würde? Was konnte sich das Haus, oder was auch immer sie hier durchschleuste, noch ausdenken. Sie wagte es nicht, den Knauf zu drehen.
„Platz da!“, kam Elaine ihr zur Hilfe und trat einfach die Tür ein.
Dahinter befand sich ein hölzerner Aufgang zu einer kleinen Luke. Abbas seufzte: „Also das ist mir jetzt echt zu schmal.“ Goal lachte erleichtert auf und besann sich wieder. Egal was kam, sie war nicht allein. „Dann bleib halt hier unten“, meinte Mia und war schon drauf und dran, die hohen Stufen zu erklimmen. Sie musste fast auf allen Vieren krabbeln, so weit auseinander waren die Trittbretter. Der Loxodon gab sich geschlagen und nickte Goal und Elaine zu: „Mia hat Recht. Wir sehen uns später. Ich warte hier.“ Dann setzte er sich in den Gang und schaute den anderen zu, wie sie die Luke öffneten und weiter empor stiegen.

„Nein ich bin nicht enttäuscht“, murmelte Abbas zu sich selbst und begann, seine Notration, die er ganz unten in seinen Sachen versteckt hatte, zu verspeisen. „Sollen sie doch weiterrätseln. Ich bleibe hier.“ Dann sagte er noch leiser zu sich selbst, aus dem Augenwinkel die Luke fixierend: „Aber ich hoffe, sie schaffen es.“

Der Gefallene GottWo Geschichten leben. Entdecke jetzt