Edelria saß an ihrem Tisch und untersuchte eine Tonscherbe. Nebenbei machte sie sich Notizen in einem kleinen Lederbuch. Die Lupe, die sie hielt, verzerrte ihr Gesicht und Goal rutschte ungeduldig auf ihrem Stuhl herum. Sie wusste nicht genau, was sie hier noch sollte. Es war beeindruckend, was die Gilde innerhalb einer Woche hochziehen konnte. Nicht nur die Anführerin schlief mittlerweile in einer echten Hütte, auch Goal und Mia teilten sich mit ihren Kameraden ein Schlafhäuschen, welches die Mitglieder der Gilde in ihrer Abwesenheit aufgebaut hatten. Dort gab es Betten aus weichem Stroh, Essen und Wasser und Goal wäre jetzt am Liebsten dort.
Nachdem Elaine und Abbas ausschweifend von ihren Abenteuern in Aramoor erzählt hatten, Valmenor sie entlohnt und erst einmal zum Entspannen und Ankommen geordert hatte, hatte die Halbling hier bleiben sollen. Und seitdem schaute sie der Elfe bei ihrer Arbeit zu. Nun endlich seufzte Edelria und legte die Scherbe vor sich auf den Tisch. Ihre grünen Augen musterten erst den Ton, dann Goal und sie bedeutete ihr mit einem Nicken, näher zu kommen. „Was glaubst du? Woher kommt diese Scherbe?“, fragte Valmenor. Zögerlich nahm Goal sie in die Hand und drehte sie hin und her: „Aus dem Boden?“ Die Elfe lachte auf: „Das stimmt. Aber ich meinte eigentlich etwas anderes.“ Sie senkte den Blick und wurde ernster, ein wenig sorgenvoll. „Das ist eine Tonscherbe aus Briar Glenn. Der Krug, zu dem sie gehörte, war einmal mein Lieblingskrug.“ „Ihr kommt aus Briar Glenn?“, Goal fühlte die Neugier in sich aufkommen. Leute und ihre Geschichten – das hatte sie schon immer interessiert. Die Leiterin der Handelsgilde nickte: „Ich habe dort studiert. Habe dort gewohnt. Vor langer Zeit…“ „Lebt Eure Familie immer noch dort?“, wollte Goal wissen. „Nein.“ Die Antwort kam scharf wie eine Klinge und die Halbling zuckte kurz zusammen. Stille breitete sich aus, während sie ein weiteres Gefühl erreichte – eins, was sie von sich selbst kannte: Mitgefühl.
„Es tut mir leid“, murmelte sie und legte die Scherbe wieder hin, „Meine Schwester ist auch gestorben. Sie ist der Grund, weshalb ich jetzt hier bin.“ „Ich weiß“, antwortete Valmenor in sanftem Tonfall und legte den Kopf schräg: „Dein Nachname ist Leaf. Wir hatten eine Alyssa Leaf in der Reliktsucher-Truppe, bis…“ „Ja.“ Goals Stimme war nicht mehr als ein heiseres Kratzen. Ihr Mund wurde trocken. Sie konnte noch immer nicht über ihre Schwester reden, ohne dass Tränen sich in ihre Augenwinkel schlichen. „Mir ging es genauso“, antwortete Valmenor und ging um den Tisch herum. Sachte schloss sie ihre Arme um Goal und legte ihren Kopf auf ihr Haar. „Meine Schwester hieß Salaria. Sie war älter als ich, besser als ich. Aber nun ist sie fort“, murmelte sie und Goal hörte, dass auch ihr das Sprechen schwerer fiel. Die Trauer, die sie beide verband, war zwar eine Bürde, aber sie teilen zu können, erfüllte die Halbling mit einer Wärme, die sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. „Wir beide wissen, was es heißt, sich für jemand anderen zu opfern, nicht wahr? Ohne Alyssa wärst du nicht hier, oder?“ Goal brachte es nicht übers Herz zu antworten. Was, wenn Edelria sie aus der Gilde schmeißen würde, wenn sie die Wahrheit kannte…
Aber die Elfe brauchte Goals Worte nicht, um zu verstehen. „Ich weiß, dass ich nicht diesen Weg gewählt hätte, wenn ich Salaria nicht näher kommen wollte“, murmelte sie und ließ wieder von der Halbling ab. Sie ging zum Tisch und ließ die Tonscherbe in einem Beutel verschwinden. Dann schloss sie die Augen und atmete einmal tief durch. Da war sie wieder: Die aufrechte, edle Fassade der Gildenleiterin. „Was ich sagen will, und – warum du hier bist“, fuhr sie gefasst fort, „Vergiss nicht, auch auf dich selbst Acht zu geben. Und vergiss nicht, dass Alyssa nicht mehr da ist. Sie kann nicht über deine Entscheidungen bestimmen. Sie würde bestimmt etwas anderes für dich wollen.“ Der letzte Satz versetzte Goal einen Stich ins Herz. „Sie wissen gar nichts über meine Schwester“, zischte sie, „Außerdem kommen wir gerade von einer geheimen Mission auf die Sie uns geschickt haben. Ich bin viel zu tief drin, als dass ich jetzt einfach gehen könnte! Was soll das Ganze?“ Sie funkelte Valmenor böse an und das Gefühlschaos verwandelte sich in Tränen, die sich in ihrem Augenwinkel sammelten. Hatte Valmenor vielleicht Recht? Am liebsten wäre Goal als fahrende Musikantin unterwegs, durch jede Stadt, immer mit einem Lied auf den Lippen. Aber was hatte sie noch, außer der Handelsgilde von ihrer Schwester? Nein. Valmenor lag falsch. Das hier war, was sie wollte.
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Der Gefallene Gott
FantastikEigentlich wollten Abbas, Elaine, Goal und Mia nur einen stabilen, sicheren neuen Lebensabschnitt als Mitglieder der Handelsgilde beginnen - Doch ein Chaos aus Ereignissen zieht sie tiefer hinab in das Netz der Legenden und Mythen einer längst verge...