Meine Welt zerbricht ein halbes Jahr später.
Ich sitze mit Finnick, Annie, Mags und Mutter, die in den letzten Jahren immer schwächer geworden ist und seit einigen Wochen ihre Arbeit aufgeben muss, in unserem Haus und verfolgen auf dem Bildschirm die Ankündigung des Jubeljubiläums durch den Präsidenten. Wir haben uns durch eine zweistündige Reportage über das Hochzeitskleid von Katniss Everdeen gequält, als endlich die Hymne von Panem ertönt und meine Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm zieht.
Präsident Snow erscheint auf der Bühne, gefolgt von einem kleinen Jungen in feiner Robe mit einer Kiste. Der Präsident beginnt eine Rede über die Bedeutung der Spiele und was die Jubeljubiläen bedeuten. Auf Snows Wink hin kommt der Junge näher und hält ihm die verschlossene Holzkiste hin. Snow öffnet sie und zieht einen Umschlag heraus, auf dem in verschnörkelter Handschrift die 75. steht. Snow öffnet ihn und nimmt ein Blatt aus dem Inneren.
"Zu den 75. Hungerspielen, als Erinnerung daran, dass selbst die Stärksten unter uns nicht unantastbar sind, werden die diesjährigen Tribute aus dem bestehenden Kreis der Sieger ausgelost", liest er vor.
Hymne, Flagge von Panem, schwarzer Bildschirm.
Wir sitzen da, wie erstarrt. Keiner sagt ein Wort. Nur Annie hickst vor Schreck auf. Finnick nimmt ihre Hand und hält sie fest. Meine Hand umschließt die Kette, die in der Arena vor vier Jahren mein Glücksbringer gewesen ist, und die ich seitdem nur selten ablege. Sie ist mein treuer Begleiter geworden und hilft mir, wenn ich mich in meinen dunklen Gedanken verliere.
"Das kann doch nicht sein", flüstert Mutter.
"Er hat nicht gezögert", sage ich düster.
"Wer?", fragt Annie. Mags sieht mich schief an.
"Snow", sage ich, "Er hat den Zettel nicht vorgelesen. Er wusste schon was darauf steht. Er hatte gar keine Zeit den Zettel auch nur zu überfliegen. Das ist inszeniert worden."
Mein Blick trifft Finnicks. Ich denke an Katniss Everdeen und ihren Liebhaber. Ihnen muss dieses Jubiläum gewidmet sein. Snow will Katniss dafür bestrafen, dass sie ihn zum Narren gehalten hat. Sie ist das einzige Mädchen, dass 12 hat. Natürlich muss sie in die Arena. Im gleichen Moment kommt mir ein zweiter, schrecklicher Gedanke. Johanna Mason. Sie ist die einzige Siegerin aus 7. Meine beste Freundin wird auch wieder in die Arena gehen müssen. Es ist lange still in unserem Wohnzimmer.In dem halben Jahr vor den 75. Hungerspielen gibt es drei Sorten von Siegern in Distrikt 4:
1. Die Karrieretribute, wie Finnick und ich, die wieder mit dem Training beginnen, um im Zweifelsfall in der Arena eine Chance zu haben.
2. Die Sieger, die sich durch diese Ankündigung in Alkohol und Morphium ertränken
3. Die Sieger, die einfach weiterleben, ohne sich etwas anmerken zu lassen, wie Mags.
Ich bin zu trotzig, um mich mit dem Fakt abzufinden, dass die Möglichkeit besteht, dass ich wieder zurück in die Arena muss. Finnick scheint damit auch nicht abgeschlossen zu haben, denn er verbringt Stunden damit, sich im Zimmer mit dem Telefon einzusperren. Ich vermute, dass er versucht sein Heer von Liebhaberinnen zu mobilisieren, um diese wahnwitzige Idee zu stoppen. Wenn ich ihn auf die Telefonate anspreche, sagt er immer nur, dass er mit einigen Kontakten aus dem Kapitol redet. Er meint, dass er mir nicht mehr sagen will, um mich nicht in Gefahr zu bringen. Das beunruhigt mich nur noch mehr. Es ist mir klar, dass die Ernten nicht rein zufällig sind. Irgendwie kann das Kapitol die Zettel in den Wahlurnen manipulieren. Es passieren einfach zu viele Zufälle. Wenn Finnick auf sich aufmerksam macht, kann es leicht sein, dass er oder jemand, der ihm wichtig ist - Annie oder ich zum Bespiel - für die nächsten Spiele ausgesucht werden... wer kann das schon sagen.Am Tag der Ernte ist es schwierig, die Stimmung zu beschreiben. Die Kinder und Eltern des Distriktes sind fröhlich und unbesorgt. Keines der Kinder wird dieses Jahr tot in der Arena enden. Die Sieger und deren enge Freunde sind nervös, zittrig und neigen zu Panikattaken. Niemand ist froh über den Gedanken, uns ein zweites Mal beim Leiden zuzusehen.
Der Papagei ist dieses Jahr nicht da. Er ist tatsächlich schon so alt, dass er mittlerweile im Ruhestand ist, weswegen heute eine goldene Frau unsere Zettel verliest - und ich meine golden: Ihre dunkelbraune Haut schimmert voller glitzerndem Goldpuder, ihre Perücke besteht aus goldenem Haar, an ihren Finger kleben zentimeterlange, gold schimmernde Nägel und ihr körperenges Minikleid bestehet ebenfalls aus goldenem Stoff.
Aus irgendeinem unerklärlichen Grund entscheidet sich diese Dame, zuerst den Männernamen zu ziehen. Sie stackst in ihren Hackenschuhen zur Glaskugel und zieht ohne viel Federlesen den erstbesten Zettel heraus. Sie tippelt zurück zum Mirkophon und liest den Namen vor: "Finnick Odair".
Ein scharfer Stich durchbohrt mein Herz.
Oh nein, bitte nicht!
Ich beobachte, wie mein Bruder der Kamera sein umwerfendes Lächeln schenkt und zur goldenen Frau in die Mitte geht. Sie wird von der Nähe zu Finnick völlig aus dem Konzept gebracht.
Die Leute klatschen. Viele von ihnen haben vergessen, wer Finnick Odair eigentlich ist. Für sie ist der Kapitol-Finnick der echte Finnick. Sie sehen ihn als Marionette und Schönling, so wie das Kapitol ihn verkauft. Sie haben vergessen, wer er war, bevor er die Spiele gewonnen hat. Vor zehn Jahren.
Die Frau klackert zur anderen Glaskugel und fischt einen zweiten Zettel aus der Urne.
"Annie Cresta"
Ich sehe Finnick panisch den Kopf drehen. Ich überlege nicht zweimal.
"Ich gehe freiwillig als Tribut", sage ich und trete vor die hysterische Annie, doch ich bin nicht die Einzige, die gesprochen hat. Mags legt mir von hinten die Hand auf die Schulter.
"Ich werde gehen", sagt sie und schiebt mich überraschend kraftvoll zurück. Ich packe sie am Arm.
"Mags, du bist zu schwach-", beginne ich, doch sie legt mir einen Finger auf die Lippen.
"Du hast noch so viel vor dir", sagt sie leise, "Ich bin alt. Früher oder später sterbe ich soweiso. Jetzt habe ich wenigstens ein gutes Gewissen dabei. "
Sie wischt mir mit ihrem ledrigen Finger die einzelen Träne von der Wange, die mir entwischt ist.
Mags tappt zu Finnick, der sie fest in die Arme schließt.
Neben mir schüttelt Annie den Kopf.
"Nein, ich muss doch. Mags darf nicht -"
Schnell halte ich ihr den Mund zu.
"Nicht hier, Annie", sage ich und ziehe sie von der Bühne, damit sie keine Aufmerksamkeit mehr erregt.Ein paar Stunden später sitzen wir wieder im Zug zum Capitol, nur ist dieses Mal kein neues Gesicht dabei.
Die Erkenntnis lastet tonnenschwer auf mir: Ich muss meinen großen, starken, unbesiegbaren Bruder aus der Arena bekommen.

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Games of the Sea (Tribute von Panem ff)
FanfictionAls Alyssas Name bei der Ernte fällt, horcht ganz Panem auf. Finnick Odairs kleine Schwester wird in den Hungerspielen antreten! Das Kapitol ist begeistert, doch für Alyssa zählt nur der eine selbstsüchtige Gedanke, dass sie überleben will. Und so b...