Um 12 Uhr geht es los

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Ich stehe vor einem gigantischen Fernseher im Hauptquartier der Spielemacher. Über den Bildschirm flimmern die Highlights der letzten Tage. Nervös kaue ich auf meiner Lippe und starre die digitale Uhr an, die im unteren rechten Bildrand unbarmherzig und unaufhaltsam die Zeit bis zur Eröffnung herunterzählen. Jede Sekunde, die verstreicht fühlte sich an, als sinke ich in den Boden ein. Jede Sekunde ist ein Sandkorn, dass mich langsam ersticken lässt. Je länger ich einsam vor dem Fernseher stehe, nichts außer dem flimmernden, bläulichen Licht, das mein Gesicht erhellt, umso stärke wächst die Panik in mir.
Wenn die Spiele doch wenigstens schon begonnen hätten. Die Zeit des Wartens vor der Eröffnung ist jedes Jahr das Schlimmste. Sind die Spiele einmal im Gange, bleibt mir kaum mehr Zeit zu grübeln und Angst zu haben. Dann kann ich agieren, handeln und Finnick zu unterstützen, doch jetzt? Jetzt stehe ich einsam in einem leeren Zimmer und kann nichts tun als zu warten.
Der Beginn der Spiele wird dieses Jahr zwei Stunden nach hinten verlegt. Normalerweise beginnen sie um 10 Uhr, doch heute Morgen, nachdem die Tribute abgeholt worden sind, hat Plutarch Heavensbee offiziell angekündigt, dass die Spiele aufgrund einiger organisatorischen Besonderheiten bezüglich des Jubeljubiläums um 12 Uhr beginnen werden. Für mich bedeutet das zwei Stunden längerer Horror. Es ist schon unglaublich schwer gewesen, mich von Finnick zu verabschieden. Wir sind auf dem Dach gewesen und er hat mich in seine Arme gezogen und fest gehalten, bis wir von einem Friedenswächter auseinander gezogen worden sind.
"Trage das", habe ich schnell gesagt und ihm das goldene Flammenarmband zugesteckt, "Katniss wird es erkennen. Sie wird dir vertrauen!"
Er hat das Armband genommen und um das Handgelenk gestreift. Dann haben wir ein letztes Mal die Hände nacheinander ausgestreckt und unsere Finger haben sich verschränkt. Dann bin ich alleine gewesen.

Es sind die längsten zwei Stunden meines Lebens. Ich fühle mich so einsam. Die Menschen, denen ich am meisten vertraue, sind weit weg und warten auf ihren Tod. Und ich stehe hier und kann nichts tun, um ihnen zu helfen, außer ihnen beschissene Brote in die Arena zu schicken.
Ich bin einsam, hilflos und sogut wie tot.

Zehn Minuten vor der Eröffnung verlasse ich das Zimmer. Die Leute müssen mich sehen. Ich muss präsent sein. Also schiebe ich mich im großen Eingangsbereich des Hauptquartiers durch die Menschenmenge nach vorne zu dem riesiegen Bildschirm, der sich praktisch über die gesamte Wand erstreckt. Sie zeigen gerade eine Zusammenfassung der 10 spektakulärsten Morde aller Zeiten. Ich sehe ausdruckslos zu, als auf Platz Nummer 3 mein Mord an Hunter gezeigt wird.
"Diese Momente verfolgen uns bis an das Ende unserer Tage, nicht wahr?", höre ich Haymitchs rauchige Stimme neben mir.
"Das sind die Lorbeeren unserer Siege", antwortete ich tonlos.
"Wie schön", erwidert er.
Ich traue dem Unterton in seiner Stimme nicht.
"Haymitch, ich habe keine Energie für irgendwelche Andeutungen", sage ich kalt, "Was willst du?"
Ich löse meinen Blick von Platz zwei (Beetee, der durch eine Stromfalle die Hälfte der Tribute auslöscht) und sehe ihn direkt an.
"Ich dachte, du hättest vielleicht Lust auf eine Wette, wie lange die Spiele dauern werden. Ich wette drei Tage."
Er sieht mich intensiv an und zieht die Augenbrauen hoch. Ich verstehe, aber ich lasse es mir nicht anmerken.
"Drei Tage?", frage ich überrascht, "Das ist eine optimistische Wette!"
" Das da drin sind alles Killer. Es würde mich wundern, wenn es viel länger dauern würde. Wenn du mir etwas Zeit gibst, kann ich dir meine genaue Angabe geben, wie lange es dauern wird. Mit exakter Stundenanzahl."
Um Himmels Willen, hat Haymitch Mut, so offen zu reden. Obwohl wir genau den besten Schutz haben: Ganz in der Öffentlichkeit, zwei Mentoren, die sich über die wahrscheinlich Dauer der Spiele unterhalten.
Ich halte Haymitch die Hand hin. "Deal", sage ich. Er schlägt ein.
Wir wenden uns wieder dem Bildschirm zu und beobachten jetzt Caesar Flickerman und Claudius Tempelsmith, die sich in ihrem Studio bereitmachen und für die Kamera lockeren Small Talk über die Spiele halten.
Noch drei Minuten.
Finnick wird jetzt wahrscheinlich in die Glasröhre steigen und darauf warten, in die Arena gebracht zu werden. Meine Kehle schnürrt sich zu.
Eine Minute und 20 Sekunden bevor es losgeht, wird der gesamte Bildschirm schwarz. Es ertönt eine Fanfare und Panems Wappen erstrahlt auf dem Bildschirm. Hinter dem Wappen öffnet sich ein heller Kreis. Wir fahren mit einem Tribut in die Höhe und erhalten einen ersten Blick auf die Arena der 75. Hungerspiele.
Ein große Ohhhhh geht durch die Menge, als die Arena von oben gezeigt wird.
Es ist ein gewaltiger Dschungel, in dessen Mitte sich ein perfekter, kreisförmiger See befindet. Im Zentrum des Sees befindet sich das Füllhorn. Es steht auf einer kleinen Insel, von der zwölf schmale Pfade wegführen, die in den See hineinragen, wie eine Sonne. Die Tribute stehen auf ihren Podesten mitten im Wasser, immer zu zweit zwischen den Strahlen und warten auf das Stratsignal.
Mein Herz beginnt zu hüpfen. Ich zittere und kann es gerade noch so verhindern, dass mir eine Träne entwischt.
Ich weiß jetzt, wer der diesjährige Favorit des Kapitols ist.
Vielleicht hat Finnick ja tatsächlich eine Chance raus zu kommen!
Kinder aus Distrikt 4 wachsen mit dem Wasser auf. Viele können schwimmen, bevor sie laufen können. Es ist unser natürliche Habitat. Wie viele der anderen Tribute können wohl schwimmen? Besonders so gut wie Finnick und Mags? Die anderen sind dort eingesperrt. Auf ihrer Scheibe. Der Gürtel, den alle Tribute tragen, erinnert mich zwar an die Schwimmhilfe, die Kinder zum Schwimmen lernen tragen, doch die Tribute werden das sicher nicht wissen.
Die letzen 10 Sekunden laufen.
Die begeisterten Zuschauer um mich zählen mit. Ich bin mit den Nerven am Ende und kurz davor einen Mord zu begehen.
Drei... zwei... eins...
Der Gong ertönt. Die Spiele sind eröffnet. Finnick springt ohne auch nur eine Sekunde zu zögern ins Wasser und krault auf das Füllhorn zu. Er ist der Erste, der dort ankommt. Wenige paddeln vorsichtig durch die Wellen, andere bleiben einfach auf ihren Scheiben stehen. Nur eine zweite Gestalt schießt ebenfalls durch den See und kommt nur Augenblicke nach Finnick am Füllhorn an: Katniss Everdeen. Woher hat gerade sie denn schwimmen gelernt?
Finnick hält den Dreizack und ein Fischernetz in den Händen und Katniss legt einen Pfeil an ihre Bogensehne. Beide stehen sich gegenüber und erstarren einen Augenblick.
"Wie gut, dass wir Verbündete sind", sagt Finnick mit einem schelmischen Grinsen und bewegt sein Handgelenk, sodas der Armreif in der Sonne schimmert. Ich sehe es auf Katniss Gesicht, dass sie nicht einverstanden ist, die Nachricht aber verstanden hat. Sie drehen sich um und geben sich gegenseitig Rückendeckung. Claudius und Caesar überschlagen sich geradezu in ihren Kommentaren: "Hast du das gesehen? ODAIR UND EVERDEEN! Das ist ein Bündnis zwischen 4 und 12!"
Überraschend dynamisch kämpfen sich Finnick und Katniss durch ihre Gegner, holen Mags und Peeta von den Scheiben und verschwinden in den Dschungel.
Ich kann aufatmen.
Die Eröffnung hat er überlebt. Jetzt müssen nur noch die restlichen Spiele folgen.

Games of the Sea (Tribute von Panem ff)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt