Die dunklen Gassen waren verlassen, die Straßen leer, kaum ein Licht brannte noch hinter den zugezogenen Gardinen. Die Stadt schlief.
Nadija nicht, sie war geradezu hellwach.
Das Herz schlug ihr so schnell, dass sie dachte, es könnte ihr jeden Moment aus der Brust springen. Ihr Kehle fühlte sich trocken an und ihr Hals war wie zugeschnürt. Die Angst folgte ihr mit jedem Schritt als die dunklen Schatten sich über die Hauswände zogen. Der Abstand zwischen den einzelnen Straßenlaternen wurde immer größer.
Sie lief schneller, sie wollte nicht dass das Licht sie verließ. Auch wenn sie selbst nur noch ein Schatten war, nachts von Dach zu Dach sprang - außerhalb des Lichts der Laternen ging, fürchtete sie nichts mehr als die Dunkelheit.
Nadija lief immer weiter, sie hielt nicht an. Nur sacht schüttelte sie ihren Kopf um nicht die Orientierung zu verlieren, dabei klebten ihre braunen Haare an ihren Wangen. Sie waren etwas lockig, durchnässt vom Regen und erschwerten ihr die Sicht.
Sie erinnerte sich nicht an viel, doch sie wusste eines, da war sie sich sicher: Sie wollte weg, um jeden Preis, fort von diesem Ort.
Ihre Beine fühlte sich langsam schwer an und sie konnte die Müdigkeit spüren, die an ihrem Körper zog. Der enge schwarze Anzug hatte sich mit dem Regenwasser vollgesogen und zerrte als zusätzliches Gewicht an ihr. Der Gürtel, mit dem roten Stundenglas Symbol auf der Schnalle, schnürte ihr die Luft ab.
Nadija spürte ihre Knie die kalten und nassen Steine treffen, die Gasse war menschenleer. Hier würde sie niemand finden. Als sie den leeren Blick gen Himmel wand, fühlte sie sich für einen kurzen Moment besser. Die unendlichen Weiten des tintenschwarzen Nachthimmels gaben ihr zum ersten Mal seit einer sehr langen Zeit das Gefühl, frei zu sein.
Die Nacht war bewölkt, doch zwischen den dichten schweren Regenwolken konnte sie ein paar Sterne am Himmelszelt entdecken. Der Regen wurde heftiger und die Tropfen prasselten umso stärker auf die kleine Gestalt am Boden nieder. Ihre Knie gaben nach und sie fiel rücklings auf die kalten Steine. Sie fühlte keinen Schmerz heute Nacht. Sie fühlte gar nichts, nur leere. Taub lag sie auf dem Pflaster, der Regen füllte die Pfützen und ließ sie zu kleinen Seen werden, die in Rinnsalen zwischen den Steinen neue Wege fanden.
Niemand war dort, die Welt war in dieser Nacht still. Die Lichter in den Straßenlaternen waren gelöscht worden, doch Nadija hatte jetzt keine Angst mehr, sie fühlte sich nicht allein, die Sterne waren ja da. Sie leuchteten für sie.
Als Nadija die Augen aufschlug war sie wieder im selben Zimmer, wie am Morgen zu vor. Sie lag im Bett, die weichen Laken schmiegten sich um ihren Körper, doch heute war die Farbe der Laken nicht blau. Es war ein sehr dunkles Rot, es erinnerte sie an Blut. Das bereitete ihr Unbehagen.
Ihr Hals war trocken und schmerzte ein wenig. Neben dem Bett stand ein Wasserglas auf dem kleinen Nachttisch. Sie griff danach. Das kalte Wasser fühlte sich gut an, als es ihr die ausgetrocknete Kehle hinunter lief. Sie fühlte sich unruhig.
Ihre Träume wurden detaillierter, sie nahmen jetzt Gestalt, Formen und Szenen an. Nadija fuhr mit ihrer Hand durch das Haarnest auf ihrem Kopf. Ihre Haut war blass und sie erschrak fast vor sich selbst, so leblos wie sie wirkte. Ihr Blick huschte zum Fenster, die Vorhänge waren noch zugezogen, es drang kaum ein Licht durch den schweren Stoff. Das wollte sie ändern.
Rasch stand sie auf und lief zum einzigen Fenster in ihrem Zimmer. Entschieden zog sie die beigen Vorhänge beiseite. Ein stechendes weiß blendete sie augenblicklich. Mit einer Hand über den Augen versuchte sie sich langsam an die extreme Helligkeit zu gewöhnen. Schneeblindheit kam jetzt nicht selten vor.
In der Nacht war wieder Schnee gefallen, sie hatte ihr Fenster schließen müssen als der kalte Eiswind ums Haus gezogen war. Die Wege im Hinterhof, die vor ein paar Tagen mühsam befreit worden waren, waren nun wieder mit massig Neuschnee bedeckt.
Am Rande des Hofs stand ein junger Mann mit Zimt braunem Haar. Andrej, wenn sie sich recht erinnerte, überblickte die weiße Pracht mit einer gequälten Mine. Sich seinem Schicksal ergebend, begann er dann zu schaufeln.
Auch wenn sie Mitleid mit ihm hatte, sie beneidete ihn auch ein wenig. Er konnte nach draußen gehen, während sie nur drinnen vor den Fenstern stehen und nach draußen sehen durfte. Die Türen waren verschlossen (das hatte sie bereits mehrmals überprüft) und konnten nur von denen, die einen Schlüssel hatten, geöffnet werden.
Also stand sie wie am Morgen zuvor und an dem davor, hinter dem Fenster und starrte nach draußen in den blendend weißen Schnee. Eine dicke, von außen mit Frost überzogene Glasscheibe trennte sie einzig von dem was vor ihr lag.
Doch all zu langweilig wurde es nie. Die vielen Fenster des alten Gebäudes boten ihr schließlich die Möglichkeit wann immer sie wollte nach draußen zu sehen. Sie kam sich vor wie in einem großen Theater und die Fenster waren kleine Bühnen. Es passierte ständig etwas Neues, es gab immer etwas zu sehen. Das lenkte sie ab und beruhigte sie irgendwie.
Mittlerweile war sie nach unten gegangen und hatte sich auf einen der Sessel im Aufenthaltsraum gesetzt. Eine Decke über den Knien und den Kopf auf die Arme gesenkt, sah sie wieder nach draußen. Vor diesem Fenster konnte man die Vögel, die im Schnee eifrig nach Körnern suchten, gut beobachten.
Jeden Morgen wenn sie zu diesem Fenster kam, lagen auf der äußeren Fensterbank immer aufs Neue Körner und Nüsse verstreut. Doch nie sah sie, wer sie dort hinlegte. Von hier aus hatte man jedoch auch einen guten Überblick auf den Innenhof. Andrej kämpfte immer noch mit den Schneemassen und kam nur mühsam voran.
Ein klickendes Geräusch lenkte Nadija unerwartet von den Geschehnissen vor den Fenstern ab. Jemand hatte die Tür zum Innenhof geöffnet und war nach draußen gegangen. Und mit Jemand war jener Mann mit den Schneeweißen Haaren und eisblauen Augen gemeint, den Nadija jetzt beobachtete, wie er durch das tiefe Weiß über den Hof stapfte. Er passte gut in dieses Bild, zwischen vereisten Ästen und mit Frost überzogenen Stämmen fiel er nicht groß auf. Irgendwie gehörte er in dieses eisige kalte Paradies. Ihr Blick konnte ihn einfach nicht loslassen.
Sie dachte oft an ihn, daran mit ihm zu sprechen. Nadija musste mit ihm reden, sie hatte es im Gefühl. Er wusste etwas, oder auch einiges mehr. Er hatte ihr schließlich den Namen gegeben als sie sich nicht erinnerte.
Doch hatte sie in den letzten Tagen gemerkt, er war sehr schwer zu erwischen. Am Tag schien er Orte zu meiden an denen sie sich aufhielt. Und am Abend ging er bevor die Uhr neun schlug.
Nicht heute, da war sie sich sicher. Heute würde er sie nicht umgehen können. Dafür würde sie schon sorgen.
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STRANGE MEMORIES, pietro maximoff
Fanfiction✧・゚: PIETRO MAXIMOFF war kein Held, da Helden für gewöhnlich nicht vergessen wurden. (Denn für einige scheint er nie existiert zu haben.) Der Wolf und das Lamm. Nach dem Fall von Sokovia versucht Pietro Maximoff den Weg in ein normales neues Leben...