„Ich muss hier raus, ich will nicht länger hierbleiben", hatte sie zu ihm gesagt, als sie wieder ruhiger geworden war. Nachdem alle Tränen versiegt waren hatte Nadija sich gedankenverloren aus der Umarmung gelöst und war aufgestanden.
Sie wusste nicht gerade viel, doch bei einem war sie sich sicher. Seit ihrem Aufenthalt in dem Gebäude mit den vielen Fenstern und Gängen, hatte sie ein seltsames Gefühl gehabt, das Gefühl wieder gefangen zu sein.
Doch jetzt wusste sie etwas mehr, noch nicht alles von dem was sie früher hatte, aber mehr.
Wohlmöglich war auch nicht alles wahr, was der Mann mit den kalten blauen Augen ihr erzählte, dass war es sicher nicht. Aber sie hatte schon von Anfang an den Eindruck gehabt, ihm vertrauen zu können.
Jetzt stand sie im Garten hinter dem Haus, die Füße in warmen Stiefeln und ein dunkelrotes Wolltuch um die Schultern gebunden. Das Tuch kam ihr bekannt vor, sie hatte es schon bei sich gehabt als sie hier in ihrem Zimmer aufgewacht war. Es hatte einen besonderen Geruch, der sich nur schwer zuordnen ließ. Irgendwie holzig, wie eine Tanne im Wald.
Die Sonnen strahlte hell über die verschneiten Baumkronen und tauchte alles schneebedeckte in ein glitzerndes und funkelndes Licht aus tausenden kleinen Kristallen. Im Tageslicht war die Welt wieder eine ganz andere als bei dunkler Nacht.
Pietro stand dicht hinter ihr, sie konnte seine Wärme fast spüren und sein Atem hob sich in weißen Wölkchen von der frostigen Luft ab. Der Eiswind ließ nicht lange auf sich warten, denn er rauschte mit aller Kraft über die flache Schneedecke und wirbelte die feinen Flocken umher.
Ein kalter Windhauch traf sie im Nacken und ließ ihre langen braunen Haare umher wirbeln, wie ein plötzlicher Blätterregen im vergangenem Herbst. Sie versuchte die umherfliegenden Strähnen zu fassen, doch der Wind war stärker. Ein schaudern überkam sie, die Kälte durchdrang jeden Stoff, kroch in jeden Ärmel und hinterließ viele kalte Schauer auf ihrer warmen Haut.
Nadija fröstelte etwas und ihre Lippen begannen allmählich an Farbe zu verlieren. Doch sie wollte nicht nach drinnen gehen, noch nicht. Hier draußen fühlte sie sich nicht mehr eingesperrt und allein. Es war ganz still und die Welt schlief, zugedeckt lag sie unter einer herrlichen weißen Schneedecke.
Der Eiswind wurde mit einem Mal schwächer und ihr war nicht mehr so kalt wie zuvor. Pietro hatte sich ein Stück zur Seite bewegt und Nadija stand jetzt in seinem Windschatten, während die letzten warmen Sonnenstrahlen ihr gefrorenes Gesicht wärmten.
Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht und sie schenkte es ihrer stummen Gesellschaft. Sein Blick war jedoch auf etwas in der Ferne gerichtet, die rauen Lippen zu einem schmalen Strich verzogen.
Ein wohliges warmes Gefühl machte sich in ihr breit, wenn sie ihn ansah. Er war jetzt kein Fremder mehr, sondern ein Freund. Einer der wenigen.
Und sie mochte ihn irgendwie sehr. Auch wenn er sehr still war und grimmig in die Ferne sah, seine Gegenwart beruhigte sie.
Im warmen Sonnenlicht betrachtet waren seine Haare so weiß wie der Schnee selbst und seine Gesichtszüge wurden weicher. Einzelne Härchen in seinem Bart waren leicht von Frost umhüllt, ebenso ein paar Wimpern, die seine dunkelblauen Augen umrahmten und sie zum Abbild eines gefrorenen Sees verwandelten.
Schnell sah sie weg als sein Blick ihren erwischte und sie wandte sich in Richtung des Hauses. Sie gingen ein paar Schritte auf das Gebäude zu, nur um kurz davor anzuhalten. Ihr Blick blieb schließlich an einem der Fenster hängen, dort saß eine Frau, ihre Haare hatten die Farbe von loderndem Feuer. Nadija erkannte sie, am Morgen erst war sie ihr zum ersten Mal begegnet. Nina betrachtete die Vögel, die auf dem Fenstersims nach Körnern pickten. Sie verweilte in dem selben Sessel, in dem Nadija sonst selbst saß und nach draußen sah.
„Nina Antonova", hörte sie Pietro hinter sich sagen, er war ihrem Blick gefolgt. „Sie ist schon sehr lange hier, sie war vor mir schon da."
Nina hob jetzt den Blick von den kleinen umherflatternden Vögeln und sah direkt in Nadijas Augen. Ihr Gesicht war ausdruckslos und ihre Augen wirkten als würden sie eigentlich durch sie hindurchsehen. Nadija hob die Hand und winkte ihr schwach, dann ließ sie ihre starren Finger wieder sinken um sie in den schützenden Hosentaschen zu vergraben.
Die Kälte nagte langsam an ihr und sie merkte auch wie ihr Begleiter anfing zu frösteln. Sie drehte den Kopf und richtete ihre Augen auf den Mann vor ihr. Sie öffnete den Mund und stockte, nicht wissend was sie ihm sagen wollte schloss sie ihn wieder. Nadija sah noch einmal zum Fenster, doch Nina war nicht mehr da. Der Sessel war leer und die Vögel fast alle verschwunden.
Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf, dann wandte sie sich erneut Pietro zu.
„Ich-", begann sie, doch wurde von einem lauten Schrei unterbrochen. Die übriggebliebenen Vögel flatterten aufgeschreckt davon.
Plötzlich packte Pietro sie fest beim Arm und riss heftig an ihr, sie stolperte und verlor fast das Gleichgewicht, konnte sich doch gerade noch fangen und sich an ihrem Begleiter festkrallen.
Ein großer schwerer Tontopf zersplitterte beim Aufprall auf den Pflastersteinenen, gefolgt von einem lauten Knall. Unzählige spitze Splitter flogen in alle Richtungen und Nadija wie Pietro hatte große Mühe nicht von einem erwischt und aufgeschlitzt zu werden.
Mit rasendem Herzen und erschreckten Keuchen hielt Nadija sich an Pietros Hand fest, sie blickten nach oben, doch niemand war zu sehen. Ein Fenster im vierten Stock stand offen, der weiße Vorgang wehte gespenstisch im auffrischendem Wind.
„Alles in Ordnung?!", hörten sie Andrej keuchen, der geradewegs auf sie zu gerannt kam. Hinter ihm folgten eine sehr blasse Vic und eine weitere Frau mit hellem blonden Haar.
„Ich dachte die Fenster kann man nicht öffnen", sagte Andrej verwundert und rieb sich mit einer Hand über den Bart.
„Nur mit Schlüssel", murmelte Pietro, mehr zu sich selbst als zu den Anwesenden. Er war plötzlich sehr bleich im Gesicht und atmete schwer.
„Ich denke da hat jemand versucht euch kalt zu machen, wortwörtlich", erklang die rauchige Stimme der Blonden neben Vic. Sie trug einen langen dunkelgrünen Mantel, an dem der Eiswind ununterbrochen zerrte.
Verwundert starrte Pietro sie an.
„Yelena? Was machst du hier?", fragte er sichtlich verwirrt an die kleine blonde Frau gerichtet.
„Ich wollte das hier verhindern."
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STRANGE MEMORIES, pietro maximoff
Fanfiction✧・゚: PIETRO MAXIMOFF war kein Held, da Helden für gewöhnlich nicht vergessen wurden. (Denn für einige scheint er nie existiert zu haben.) Der Wolf und das Lamm. Nach dem Fall von Sokovia versucht Pietro Maximoff den Weg in ein normales neues Leben...