Türchen 17

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HARPER

Früh am Morgen arbeitete ich den Papierkram ab, der sich diese Woche auf meinem Schreibtisch angestaut hatte. Dabei war ich immer noch nicht fähig, mich zu konzentrieren. Der Vorfall in meiner Wohnung war nun eine Woche her. Connor war seither krank gemeldet, Mr. Geller war immer noch nicht wieder im Büro und ich war erst gestern zum ersten Mal wieder zu mir nach Hause gefahren, anstatt bei Olivia zu übernachten. Heute war Mittwoch, vier Tage vor Heiligabend und die Belegschaft fand sich am frühen Mittag zur Mitarbeiterversammlung im großen Konferenzsaal im Erdgeschoss ein. Vor eineinhalb Wochen war dieser turnhallengroße Veranstaltungsraum, der an die Lobby grenzte noch für die Weihnachtsfeier geschmückt gewesen. Von der feierlich dekorierten Bühne war nichts mehr zu sehen. Stattdessen blickten wir auf unzählige Stuhlreihen vor uns sowie eine Bühne mit Rednerpult. In der ersten Reihe saß der Vorstand und applaudierte, als die HR-Beauftragte, Sybille Atkins – eine der älteren Mitarbeitenden – die Bühne betrat. Wir stimmten mit ein.
   Ich sah gespannt zu Olivia, die mir einen vielsagenden Blick zuwarf.
Das Klatschen verstummte.
   Ms. Atkins räusperte sich und schob ihre Brille zurecht. »Danke, dass Sie heute so zahlreich erschienen sind. Da es sich um eine sehr spontane Veranstaltung handelt, möchte ich nicht lange um die tragischen sowie zukunftsverändernden Ereignisse herumreden, die den Vorstand und die HR-Abteilung so kurz vor Weihnachten noch beschäftigen. Wir sind sehr betroffen. Denn in den letzten Tagen haben uns zwei schockierende Nachrichten erreicht.«
   Mein Blick glitt zu Olivia, die mich mit Fragezeichen in den Augen ansah, bevor Sie wieder nach vorn Richtung Bühne schaute.
   »Es tut uns sehr leid, Ihnen mitzuteilen, dass Mr. Brown am vergangenen Wochenende überraschend verstorben ist.«
   Ein unruhiges Raunen drang durch den Saal und verbildlichte mir, dass diese Situation voll und ganz real war. Und obwohl mir diese Information bereits bekannt gewesen war, war ich dennoch bestürzt. Damian hatte die Wahrheit gesagt, das schien nun unbestreitbar. Wie hätte er sonst davon wissen sollen?
   Übelkeit kam in mir auf und bescherte mir schlagartig ein flaues Gefühl in der Magengrube. So deutlich, dass ich mir die Hand auf den Bauch legte und schwer schluckte.
   »Wäre diese tragische Nachricht nicht schockierend genug, hat uns in dieser vorweihnachtlichen Zeit noch ein weiteres Ereignis bis ins Mark erschüttert.«
   Ich versuchte tief zu atmen, aber die Luft schien nicht in meinem Körper anzukommen. Und dabei war es vor allem der Gedanke an Damian, der mir die Luft zum Atmen raubte. Er war wirklich ein Mörder. Er hatte tatsächlich versucht, Connor umzubringen und er war genauso verantwortlich für den Tod von Mr. Brown. 
   Ich sah haltsuchend zu Ms. Atkins, die einen betroffenen Atemzug nahm, bevor sie die Unruhe im Raum mit dem Erheben ihrer Stimme wie eine Schallmauer durchbrach. 
   »Aufgrund eines traurigen Schicksalsschlages, ist Mr. Geller, Geschäftsführer und Verantwortlicher sowie wichtiger Ansprechpartner vieler von Ihnen, vor wenigen Tagen ebenfalls verstorben.« Was?
   Geschockt blieb mir der Speichel beim Schlucken im Hals stecken und ich musste ein Würgen unterdrücken. Stattdessen hustete ich, räusperte mich und kämpfte damit herunterzuschlucken, was ich gerade gehört hatte. Die Leute in den Sitzreihen begannen erneut mit ihren Kolleginnen und Kollegen zu reden. Ich sah zu Olivia, der die Farbe aus dem Gesicht gewichen war. Konnte es sein, dass Damian auch noch unseren Boss umgebracht hatte? Mein Puls schoss plötzlich in die Höhe. Unweigerlich sah ich mich um, da mich ein Schwall der Angst überfiel. War ich die nächste auf seiner Todesliste?
   »Bitte beruhigen sie sich«, bat uns Ms. Atkins. »Die erschütternden Ereignisse der letzten Tage, haben so kurz vor Weihnachten leider auch zukunftsrelevante Fragen aufgeworfen, denn Mr. Brown als auch Mr. Geller hinterlassen nicht nur eine persönliche Lücke im Leben vieler von Ihnen. Auch in Bezug auf die Positionen und Verantwortlichkeiten im Unternehmen entstehen für kommende Prozesse inakzeptable Lücken. Daher können die Positionen im Unternehmen nicht unbesetzt bleiben. Die Wahl zum oder zur nächsten Vorstandsvorsitzenden findet im neuen Jahr statt. Auf einen Geschäftsführer können und möchten wir bis dahin allerdings nicht verzichten. Ich möchte ihnen daher einen guten Freund und Geschäftspartner von Mr. Brown vorstellen, der Mr. Gellers Position aufgrund seiner zahlreichen Qualifikationen und umfangreichen Erfahrung als Executive vorübergehend und möglicherweise auch dauerhaft ersetzen wird. Mr. Damain Sinclair.«
   Ich hustete, da mein Würgereflex einsetzen wollte und zur Übelkeit hinzu ein gefühlter Schlag in die Magengrube folgte. Förmlicher Applaus hallte durch den gefüllten Saal, während ich versuchte zu atmen und auf meine Hände hinabsah, die durch das Adrenalin und meinen schwächelnden Kreislauf zu zittern begannen. Hatte ich wirklich richtig gehört?
   Im gleichen Moment sah ich, wie tatsächlich Damian, von dem anhaltenden Klatschen begleitet, in einem maßgeschneiderten Anzug die Bühne betrat, sich mit beiden Händen am Rednerpult abstützte und einigen Personen zur Begrüßung zunickte.
   Ich war kurz davor, mich zu übergeben. Olivia trat näher zu mir. »Alles in Ordnung?«
Da mir Damians Anblick auf dieser Bühne die Kehle zuschnürte, brachte ich keinen Ton hervor.
Stattdessen schüttelte ich langsam den Kopf und starrte auf die Bühne. 
   Damians Ausdruck war ernst und augenscheinlich bestürzt. Ich grub die Fingernägel in meine Handflächen und spürte, wie sich der unmittelbare Schock beim Anblick seiner heuchlerischen Gestik und Mimik in Wut verwandelte. 
   »Das ist er«, krächzte ich zu Olivia.
   »Wer?«, fragte sie.
   »Damian, der Auftragsmörder.« Sie erstarrte, während die Stimme dieses Killers den Saal erfüllte. Die Stimme, mit der er mir an der Weihnachtsfeier Komplimente gemacht hatte, um die Beweise seines Mordes loszuwerden.
   »Wir alle sind wegen des Vorfalls äußert betroffen. Sie haben alle mein herzlichstes Beileid. Ebenso ist mir bewusst, dass ich Mr. Geller niemals ersetzen werde können. Viel mehr möchte ich mich für den so kurzfristigen Einschnitt ihres Arbeitsalltags durch mein Hinzukommen noch in diesem Jahr bei Ihnen entschuldigen. Deshalb habe ich als erste Amtshandlung dafür gesorgt, dass sich Ihr Weihnachtsgeld als Entschädigung um 35% erhöht.«
   Die Belegschaft begann jetzt energisch zu klatschen, auch wenn ersichtlich war, dass die Neuigkeiten um Mr. Brown und Mr. Geller jeden von uns bedrückten.
Anstatt ebenso zu applaudieren, verschränkte ich die Arme. Offensichtlich wollte Damian sich bei den Angestellten einschleimen, indem er uns bestach. Und so, wie ich mich umsah, funktionierte es bei den meisten.
   »Auf das Mitteilen weiterer Informationen werden wir aus Respekt vor den Angehörigen verzichten. Bitte behandeln sie die Situation mit Sensibilität. Insbesondere in schweren Zeiten wie diesen, formt es uns, als Belegschaft zusammenzuhalten.«
   Ich schnaubte. Aus Respekt vor den Angehörigen? Er war schuld am Tod der beiden Opfer und sprach von Respekt? Und das konnte er freien Gewissens vor hunderten von Menschen laut aussprechen? Ich schnaubte nochmal. Wirklich unfassbar. Lügen schien ihm offenbar keine Probleme zu bereiten.
   Aber wieso das alles?
Oh Gott.
   Ich löste die Verschränkung meiner Arme wieder, weil mir bewusst wurde, dass er möglicherweise nur hier war, um mich zu töten. Das erschien mir jedoch viel Aufwand zu sein, um mich lediglich aus dem Weg zu schaffen. Hatte er sich demnach vielleicht nur an mich herangemacht, weil er hinter Mr. Gellers Position her war? Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich, es machte auf einmal alles Sinn.
   Er hatte Mr. Brown und Mr. Geller getötet, um sich damit in die Firma zu drängen. Und wie er bereits zugegeben hatte, war ich ebenfalls nur eine Spielfigur gewesen. Dieses Arschloch war wirklich unglaublich. Wie verdammt nochmal hatte er es geschafft, offiziell hier angestellt zu werden?
   Und im gleichauf folgenden Moment wurde mir etwas bewusst, das mir endgültig den Magen umdrehte.
   Damian war von nun an mein neuer Boss. 
Ich stand auf, drückte mir die Hand auf den Mund, stürmte durch die Stuhlreihe an den Kollegen vorbei und eilte zu den Toiletten in der Lobby.

Merry dark Christmas, my Love!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt