Türchen 22

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HARPER

Mr. Geller hatte die ganze Zeit gewusst, dass er sterben würde. Er wusste es bereits, als ich ihn vor zwei Wochen in das Hotel einbuchen sollte. Deshalb hatte er mich alle Termine absagen lassen und aus dem gleichen Grund war er nicht mehr ins Büro gekommen. Nun erkannte ich auch das Hotel auf dem Foto wieder. Es hatte auf der Website ganz anders gewirkt, daher hatte ich es auf den ersten Blick nicht erkannt.
   Das bedeutete Damian hatte Mr. Geller überhaupt nicht umgebracht, um an seine Position zu kommen. Hatte er sich in diesem Fall ordentlich und ordnungsgemäß beworben? Ziemlich sicher waren alle seine Bewerbungsunterlagen gefälscht gewesen. Wie sonst hatte er als Auftragskiller zur Führungskraft wechseln können? Dennoch bedeutete das, dass er sich seit unserem Date tatsächlich ein normales Leben aufbauen wollte. Zumindest augenscheinlich waren seine Worte keine Lüge. Sein scheinbarer Größenwahn ließ mich dennoch den Kopf schütteln. Jeder normale Mensch hätte sich in seinem Fall für einen unauffälligen Job entschieden. Aber er musste gleich übertreiben und sich direkt zum Geschäftsführer machen.
   Ms. Geller sah mich besorgt an. »Machen Sie sich keine Gedanken, Harper. Mir hat er es auch erst gesagt, als es kurz vor zwölf war. Edward hat Sie immer in hohen Tönen gelobt. Er war schon lange dafür, dass Sie den roten Umschlag erhalten, aber er war nun mal nicht der Einzige der das bestimmen durfte. Der Vorstand nimmt seit Jahren eine immer wichtigere Rolle ein.« Ich nickte, als sie eine Hand an meinen Arm legte. »Alles Gute, Liebes. Und frohe Weihnachten.«
   »Danke! Ihnen auch alles Gute und frohe Weihnachten«, erwiderte ich, als sie ins Auto stieg und der Wagen davonfuhr.
   Im gleichen Moment fiel mir auf, dass ich so durcheinander gewesen war, dass ich ihr nicht mal mein Beileid ausgesprochen hatte. Aber sie war sowieso nicht der Typ Mensch, der sich viel aus solchen Zusprüchen machte.
   Als ich wieder auf meinen Arbeitsplatz zuging, sah ich Olivia über ihren Unterlagen am Schreibtisch stehen.
   »Und? Wie steht es um Ms. Geller?«, fragte sie, während sie einige Blätter auf ihrem Tisch hektisch mit dem Tacker zusammenheftete.
   »Den Umständen entsprechend, aber sie nimmt es mit Würde«, erzählte ich und zog meine Lippen zu einem schmalen Strich. Kurz dachte ich darüber nach, Olivia von dem zu erzählen, was Ms. Geller mir gerade über unseren ehemaligen Boss anvertraut hatte, aber als ich die Uhrzeit sah, hielt ich es zurück. 16:50 Uhr. Wenn Olivia ihren Flug noch kriegen wollte, musste sie sich beeilen. »Und du packst es gleich?«, fragte ich sie. 
   Sie schien etwas gestresst. »Ja, ich bekomme nur diese blöde Präsentation nicht fertig. Das Programm spinnt mal wieder.«
   »Schick es mir rüber. Ich mache das. Nicht, dass du noch deinen Flug verpasst.«
   »Echt?« Sie begann zu strahlen. »Harper, du bist die Beste! Danke!«
   Sie schickte mir die dazugehörigen Mails, bevor sie in Windeseile alles zusammenräumte und sich überschwänglich von mir verabschiedete.
   »Frohe Weihnachten! Und ruf mich über Neujahr an«, sagte sie. Ihre Umarmung war so fest, dass ich glaubte sie würde mich gleich zerquetschen.
   »Frohe Weihnachten! Das mach ich. Versprochen. Guten Flug!«, antwortete ich, bevor sie mit eiligem Schritt durch die Tür stöckelte. Wenn wir das nächste Mal telefonierten, würde ich sie über die Neuigkeiten aufklären. 
   Ich las mich in die Mails ein und passte die Präsentation an, was doch noch einiges an Zeit in Anspruch nahm. Als ich ebenfalls den Feierabend einläuten wollte, steuerte Damian an mir vorbei seine Bürotür an. Ich prüfte die Uhrzeit auf meinem Smartphone. Schon 19:30 Uhr. 
Er stoppte an der Glastür, als sein Blick irritiert auf das einsame Licht über meinem Schreibtisch fiel und er schließlich zu mir herübersah. Er trug heute eine schwarze Anzughose, ein schwarzes Hemd und ein schwarzes Jackett. Und obwohl ihn das noch düster aussehen ließ, als sonst, vor allem in diesem halbdunklen Büro, hatte sich meine Angst vor ihm etwas zurückgezogen. Dasselbe schien für die Wut zu gelten, denn zumindest im jetzigen Moment spürte ich keinerlei Drang, ihm die kalte Schulter zu zeigen.
   »Harper?« Er schaute sich im leeren, halbdunklen Großraumbüro um, bevor seine Augen verwundert in meine sahen. »Was machst du noch hier?« 

Merry dark Christmas, my Love!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt