Türchen 21

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HARPER

Müde blickte ich rechts neben mich auf den Papierstapel von zehn Seiten, den ich bereits abgetippt hatte. Dann sah ich nach links und beäugte den Berg an Text, den ich noch abarbeiten musste. Ich hatte darüber nachgedacht, mich zu beeilen, aber in diesem Fall war Beharrlichkeit schlauer, als Geschwindigkeit. Denn wenn ich mit der Liste fertig war, würde er sich etwas Neues ausdenken, um mich zu bestrafen. Besser fand ich mich damit ab, dass ich Hier und Jetzt nichts ausrichten konnte, um ihn umzustimmen. Nichts, was nicht auch bittere Folgen für mich mit sich trug. Wenn er mich also die ganze Nacht schreiben lassen wollte, dann bitteschön. Er hatte noch genau 22 Stunden Zeit, bis ich in meinen Weihnachtsurlaub verduftete.
   Plötzlich hörte ich ein lautes Scheppern. Es klang, als wäre etwas gegen die einzige Wand geknallt, die in Damians Büro nicht aus Glas war. Dennoch hörte ich Scherben. Nahm er vor Wut jetzt das ganze Gebäude auseinander? Ich verspürte den Drang nachzusehen, ob es ihm gut ging. Aber es konnte mir egal sein. Schließlich interessierte es ihn genauso wenig, wie es mir ging. Also ließ ich davon ab und konzentrierte mich weiter auf den leuchtenden Bildschirm vor mir.
   Eine kurze Zeit später ging die Tür auf. Damian hielt den Türgriff so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten und funkelte mich mit angespanntem Kiefer an. 
   »Du kannst jetzt gehen.«
   »Was? Aber ich bin noch nicht fer...« Seine Augen wurden schmal, weshalb ich verstummte. 
   »Los, sonst überlege ich es mir vielleicht anders.« Da hatte er recht. 
   »Okay«, sagte ich verwundert. Warum nahm er seine Anweisung zurück? Zeigte er jetzt etwa Einsicht? »Schönen Feierabend«, ergänzte ich und musste unnatürlich oft blinzeln, da seine Reaktion völlig unerwartet kam. Vermutlich hatte er aufgegeben, weil er zu so später Stunde genauso wenig hier herumsitzen wollte, wie ich.
   »Schönen Feierabend«, brummte er und sah mich nicht mal mehr an, so schnell zog er die Tür zu.
   Ich packte meine Sachen zusammen, fuhr den Rechner herunter und machte mich auf den Weg nach Hause. Viel zu spät fiel ich ins Bett und schlief aufgrund des harten Arbeitstags sofort ein.

Am darauffolgenden Morgen kam ich wieder etwas später ins Büro, um Damian nicht zu begegnen. Meine Laune war im Vergleich zu den letzten Tagen schon viel besser. Immerzu dachte ich daran, dass ich in wenigen Stunden erlöst war und für ein paar Tage einfach entspannen würde. Olivia begrüßte mich mit einem freudigen Grinsen. Offenbar war sie ebenfalls in Weihnachtsstimmung.
   »Guten Morgen«, sang sie nahezu.
   »Guten Morgen«, erwiderte ich mit einem strahlenden Lächeln.
   »Mr. Sinclair ist heute den ganzen Tag außer Haus in Meetings«, erklärte sie und bewegte ihre Schultern hin und her, als würde sie tanzen.
   »Ach ja?« Ich blickte zu seiner Bürotür.
   »Ja, das hat er mir vor einer halben Stunde zugerufen, als er durch die Tür gerauscht ist.« Sie zeigte auf den Ausgang zum Treppenhaus, zu dem ich gerade hereingekommen war. »Und er kommt erst heute Abend wieder.«
   Ich fuhr meinen Rechner hoch und hing meinen Mantel über den Schreibtischstuhl, bevor ich mich setzte und näher an den Tisch rollte.
   »Der Tag wird besser und besser«, sagte ich und wir kicherten. Denn das bedeutete ich konnte in Ruhe meinen To-dos nachgehen und alle Aufgaben abschließen, um heute Abend in Ruhe in die Weihnachtsfeiertage zu starten. Weihnachten konnte kommen. Ich war sowas von bereit.
An meinem Bildschirm vorbei spickte ich zu Olivia. »Und? Hast du über Weihnachten irgendwas Besonderes geplant?«
   Sie nickte und presste die Lippen mit skeptischem Ausdruck aufeinander. »Besonders wird es sicherlich. Meine Grandma hat ein großes Familientreffen einberufen, also wird es ein riesiges Chaos geben. Aber es gibt auch Alkohol und leckeres Essen, deshalb lasse ich mir das nicht entgehen. Um 18:00 Uhr geht mein Flug.« Sie grinste und steckte mich mit ihrem Lächeln an.
   »Und du?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Nichts Wildes. Ich werde meine Eltern besuchen, meinen Bruder ärgern, der sicherlich seine alljährlich neue Freundin mitbringt und mich über das Weihnachtsessen hermachen.« 
   Bis zur Mittagspause hatte ich ganz schön viel zu tun. Damian hatte seine Anrufe offenbar auf mich umgeleitet, weshalb ich pausenlos am Telefon hing.
   Angeblich erwartete er Post, daher lief ich in die Lobby, um einige Briefe am Empfang für ihn abzuholen. Zurück an meinem Schreibtisch sah ich den Stapel durch und stockte, als ich auf einem der Briefumschläge Connors Namen über der Absenderadresse las. Seit dem Vorfall in meiner Wohnung war er nicht mehr im Büro aufgetaucht. Hatte Damian möglicherweise etwas damit zu tun? Mein Mistrauen wuchs mit jeder Sekunde. Als Olivia uns einen Kaffee holen ging, gab ich meinen Bedenken schließlich nach und öffnete den Brief. Ich zog das weiße Papier hervor und überflog die ersten Zeilen, verstand aber schon durch den Beginn der Nachricht, worum es sich handelte. Betreff: Kündigung
Connor hatte tatsächlich gekündigt. Ich atmete durch, steckte das Schreiben wieder in den Umschlag und legte ihn zurück auf den Stapel, den ich Damian später auf den Schreibtisch legen wollte. Er würde sicherlich merken, dass ich seine Post geöffnet hatte. Aber zu wissen, was genau um mich herum abging, war mir in diesem Moment wichtiger. Mit dem Fingernagel strich ich mir über die Unterlippe und konnte immer noch nicht glauben welche einschneidenden Auswirkungen Damians plötzliches Erscheinen in meinem Leben hatte. Einen Vorteil gab es. Zumindest hatte ich seither kein einziges Mal mehr einen Spanner an meinem Fenster bemerkt.

Am späten Nachmittag kam Ms. Geller zur Tür hereingeschneit. Sie trug einen schwarzen Fleece-Mantel über ihrem ebenso schwarzen Strickkleid. Nur ihre Perlenohrringe schimmerten weiß. Die dunkelbraune Kurzhaarfrisur brachte sie wundervoll zur Geltung. Wenn ich einmal fast sechzig war, würde ich unbedingt noch so aussehen wollen, wie sie.
   Sie musste so unglaublich traurig sein, dass Mr. Geller nun nicht mehr an ihrer Seite war. Anzusehen war es ihr aber nur an den geröteten Augen.
   »Ms. Geller?« Sie kam vor meinem Schreibtisch zum Stehen. Ich erhob mich und auch Olivia stand auf. »Was machen Sie denn hier?« fragte ich, verwirrt über ihren Besuch aber erfreut sie zu sehen. Sie kam selten ins Büro. Dafür hatten wir in all den Jahren oft telefoniert, um auch die privaten Termine von Mr. Geller mit seinem Terminkalender unter einen Hut zu bekommen.
Ms. Geller zog zwei Präsente aus einer Tasche hervor. In beiden Geschenken befand sich eine Flasche Wein und eine Tüte selbst gebackener Plätzchen, die ich durch die durchsichtige Folie erkennen konnte. »Hallo Ladies«, sagte sie. In ihrer Stimme schwang die übliche Frohnatur mit, die sie auch am Telefon immer war. »Ich habe etwas für euch. Frohe Weihnachten«, sagte sie und übergab uns jeweils eins der Präsente.
   »Das wäre doch nicht nötig gewesen, Ms. Geller«, sagte Olivia und ich bestätigte es.
   »Mädels, das Leben ist kurz. Also spart euch die Beweihräucherung. Trinkt Wein und esst Plätzchen«, verkündete sie. Wir lachten gemeinsam, aber ihr Schmunzeln klang anders, weshalb ich ihr ansah, dass der Tod ihres Mannes ihr schwer zusetzte. Mein Herz wurde schwer wie Blei, da ich den Mörder ihres Mannes persönlich kannte. Ms. Geller so zu sehen, ließ meine Wut auf Damian wieder entflammen.
   »Aber ich bin eigentlich hier, um die Sachen meines Mannes abzuholen. Mr. Sinclair hat gemeint, er hätte alles im Büro zur Abholung vorbereitet.«
Ich sah zu Olivia, die genauso fragend zu mir zurückblickte. 
   »Okay, dann wollen wir mal sehen.« Ich ging auf meinen Schreibtisch zu und zog den Schlüssel für Damians bzw. Mr. Gellers ehemaligem Büro hervor, den ich für Notfälle in einer abschließbaren Schublade verstaut hatte.
   Eine Kiste mit den Sachen, sowie ein Wandbild waren auf Damians Schreibtisch drapiert. Ich schlug Ms. Geller vor, sie zum Auto zu begleiten und ihr beim Tragen zu helfen. Auf dem Weg zum Ausgang hielt ich es nicht mehr aus zu fragen, was genau es mit dem Wandbild auf sich hatte, das bereits seit meiner Anfänge in dieser Firma an Mr. Gellers Wand hing. 
   Sie sah im Laufen zu mir und lächelte schwach. »Edward liebte dieses Seehotel. Es gehörte seinem Vater.« Sofort bereute ich es, gefragt zu haben, denn sie seufzte und schien nun noch trauriger zu sein. »Als er am vergangenen Wochenende verstorben ist und die Familie ihm in diesem Hotel die letzte Ehre erwiesen hatte, sprach er – wie so oft – davon, wie sehr er diesen Ort bereits als Kind geliebt hatte. Wir haben dort sogar unsere Flitterwochen verbracht.« In ihren Augenwinkeln lagen Tränen. Sie lächelte weiter, als wir vor der Mercedes Limousine am Straßenrand zum Stehen kamen. Sofort stieg ihr Fahrer aus, nahm uns die Sachen ab und hielt ihr die Tür zum Rücksitz auf.
   Dann sah Ms. Geller zu Boden, bevor sie wieder mich fokussierte. »Edward mochte Sie wirklich gern, Harper.« Als sie das sagte, drückte sich ebenfalls ein Klos in meinen Hals. Ich schluckte, da ich unser beider Selbstbeherrschung mit meinen Emotionen nicht weiter strapazieren wollte. Mr. Geller war immer freundlich zu mir gewesen. Wir hatten nie viel geredet, aber wir waren ein gutes Team gewesen. »Als er wusste, dass er sterben würde, hat er sich in das Seehotel zurückgezogen. Er hat es uns tatsächlich erst am Freitag gesagt. Edward konnte wirklich ein Sturkopf sein.« Sie lächelte immer noch, obwohl ihre Unterlippe zu Beben begann. Moment mal. Er hatte gewusst, dass er sterben würde? 
   »Wie konnte er es wissen?«, fragte ich und empfand meine Worte im nächsten Moment als aufdringlich.
   Ms. Geller schien es jedoch eher zu wundern, als zu ärgern. »Hat er es Ihnen nicht gesagt?«
Was gesagt? Ich blinzelte ihr entgegen, in der Hoffnung, dass sie mich aufklärte. 
   »Edward war krank.« Sie beugte sich trotz des traurigen Schleiers, der um ihr Gesicht lag, amüsiert zu mir vor. »Ich sage ja. Er war ein Sturkopf.«
   Und in diesem Moment wurde mir einiges klar.

Merry dark Christmas, my Love!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt