Man sollt meinen, Weihnachten ist ein Fest, das von jedem geliebt wird. Das ist in diesem kleinen Städtchen auch so. Wäre da nicht dieses eine Haus, in dem ein älterer Herr lebt, den sie alle nur „den Griesgram" nennen. Oh gewiss, den Namen hat er nicht umsonst erhalten. Den lieben langen Tag steht er in seinem Garten und schimpft über dieses und jenes. Wenn er das mal nicht macht, so sitzt er drin auf seinem Sofa und starrt die alte Flimmerkiste an, die doch sowieso nur das gleiche Programm bringt. Der Griesgram ist unzufrieden mit allem in seinem Leben. Besonders aber, wenn es um die Weihnachtszeit und das Fest geht. Wie sehr er doch die blinkenden Lichter verachtet, die stinkenden Tannenbäume und die unverdienten Päckchen. Brave Kinder? Pah! Lächerlich! Ständig liegen Bälle in seinem Garten, die ihm die Beete zerstören. Geschrei von spielenden Gören auf den Straßen, wenn er grade seine Mittagsruhe halten möchte. Diese Nervenbündel strapazieren ihn sehr. Jedes von ihnen hätte eine Rute verdient!
An diesem Weihnachtsabend hat er sich ein Buch genommen. Im Fernsehen läuft auf jedem Sender irgendein Weihnachtsfilm. Einer schlechter wie der andere. Damit verdient die Industrie doch nicht wirklich Geld? Er hat seine Lesebrille auf der Nase, doch in der Öffentlichkeit würde dieser Mann niemals zugeben, dass er so etwas wie eine Sehhilfe benötige. Er ist der Griesgram der Perfektion. Während alle anderen sich um Kartoffelsalat, Gänsebraten und Rouladen setzen, bestand seine Abendspeise aus einem Salat. Dieses Weihnachten verdirbt ihm alljährlich den Appetit. Vermutlich liegt es an den Gerüchen, diese grausige Süße. Sein Krimi ist in Ordnung, doch er findet keine richtige Tiefe. Dabei hat der Autor doch so gute Werke. Aber er wäre nicht der Griesgram, wenn er nicht irgendwas zu bemängeln hätte.
Dort draußen fahren Autos vorbei. Verwandte, die ihre Familien besuchen oder von einem Besuch heimkehren. Heuchlerischer Mist, so denkt der Griesgram. Den Rest des Jahres redet man kaum mehr. Aber an Weihnachten wird getan, als sei man die größte und engste Liebe. Oh, wie erbärmlich das doch ist. Sind die Menschen eigentlich so blöde, nicht zu merken, wie sie sich selbst belügen? Der Griesgram legt den Krimi beiseite. Ordentlich legt er die Brille daneben. Er kann sich ja doch nicht auf die gedruckten Worte konzentrieren. Ein Spaziergang sollte ihm guttun. So langsam sollte ein jeder in die Häuser verkrochen sein. Er brauche so keiner Menschenseele begegnen. Langsam erhebt er sich von seinem Sofa, aufgrund seines Alters, knarzt es schon. Die Federn haben schon bessere Zeiten gesehen. Aber wozu sollte er sich ein Neues kaufen? Diese neumodischen Möbel sind doch ähnlich wie andere Produkte so konzipiert, dass sie nach kurzer Zeit kaputt gehen.
In der Garderobe nimmt er sich den Mantel vom Haken und den Hut von der Ablage. Die grauen Kotletten schauen noch hervor und zeigen das Alter des Mannes deutlicher. Falten hat er noch wenig, vielleicht liegt es daran, dass er so wenig lacht. So munkelt zumindest manche Zunge. Der Perfektionist vergisst selbstverständlich weder Schlüssel noch Papiere und auch die Haustür wird sachgemäß abgeschlossen.
Als er vor die Tür tritt, ist es ruhig in der Straße. Seine Nachbarschaft ist in die Häuser verschwunden, noch vorhin lärmten die Kinder im Schnee. Mit dem Schippen des Schnees sind manche nachlässig, das fällt ihm sofort ins Auge. Kopfschüttelnd geht er seinen Weg, begutachtet die Gärten mit scharfem Blick. Keine Menschenseele kommt ihm entgegen. Unter seinen Schuhen knirscht der Schnee. Schlecht geräumt, so denkt er sich. Vielleicht sollte er das mal dem Bürgermeister melden. Der hört ihm wenigstens noch zu und versteht seinen Ärger. Er wandert an der Kirche vorbei, dessen Glocken soeben aufhörten zu schlagen. Wie viele Menschen wohl heutzutage noch den Gottesdienst besuchen? Der Griesgram hat irgendwann die Lust daran verloren, aber manchmal findet er sich noch an Sonntagen dort ein.
In der kleinen Parkanlage ist es ebenso einsam, wie auf den restlichen Straßen. Der Griesgram hätte nun doch mit dem einen oder anderen Spaziergänger gerechnet. Aber nicht einmal ein Herrchen führt seinen Hund aus. Noch immer schneit es sanfte Flocken, die vor seiner Sicht tänzeln. Er entdeckt eine geräumte Bank und lässt sich dort nieder. Hinter ihm eine Messingstatur eines einstigen Bürgermeisters. Sein Atem zeigt sich in leichtem Rauch vor seinem Gesicht, doch frieren tut er nicht. Schließlich hat er sich heute den wärmsten Schafsfellpullover angezogen. Er genießt ein Weilchen die Stille. Mit einem Mal hört er Schritte, kleine und zarte. Wie die eines Kindes. Na das hat ihm ja jetzt auch noch gefehlt. Hoffentlich tobt es hier nicht herum, wenn es schon seine Ruhe stören muss. Doch da, keine Schrittchen mehr. Der Griesgram schaut nach links, da steht vor ihm ein kleines Mädchen. Es mag so etwa sechs Jahre alt sein. Ihre engelsblonden Haare stecken unter einer warmen Mütze mit blauen Zöpfen dran. Sie trägt einen ebenso blauen Anorak und dunkle Winterstiefel mit Fell daran. Sie schaut ihn aus grün-blauen Augen an.
„Warum sitzt du hier allein?", fragt das Mädchen selbstbewusst.
Normalerweise meiden die Kinder den Griesgram, wenn sie ihn sehen. Viele haben sogar Angst vor ihm. Doch dieses Kind macht keinerlei Anstalten, von hier weg zu wollen. Sie sieht erwartungsvoll und neugierig aus.
„Ich sollte lieber fragen, warum ein junges Ding wie du hier allein langläuft. Lauf! Such deine Eltern. Du gehörst um diese Zeit nach Haus", antwortet der Griesgram etwas gereizt.
Doch davon lässt sich das Mädchen nicht beeinflussen.
„Es ist Weihnachten, da sollte niemand allein sein", sie spricht seltsam klar für ein Kind ihres Alters.
„Ich bin gerne allein. Da kann mich niemand stören."
„Wo sind denn deine Mama und dein Papa?"
„Die leben schon lange nicht mehr. Nun auf, Kind. Du solltest wirklich nicht in der Kälte stehen", versucht er sie weiter abzuwimmeln. Sie bleibt, wo sie ist.
„Wo sind deine Kinder? Hast du denn keine? Jeder hat doch eine Familie."
„Ich hatte eine Familie, aber das ist viele Jahre her. Jetzt habe ich keinen mehr und die Einsamkeit ist mein engster Freund. Ein jeder Mensch verachtet mich und ich sie. Sie nennen mich den Griesgram, weil ich es leid bin, ihre Freude zu ertragen."
„Aber warum denn?"
Redet er hier wirklich mit einem kleinen Kind? Das Mädel dürfte doch kein Wort verstehen, was er hier so von sich gibt. Doch ihr Blick, diese Augen, die irgendetwas in ihm erwecken, lassen ihn erzählen.
„Weil Schmerz und Leid größer sind, als jede Freude jemals sein kann. Ich habe schon lange kein Glück und keine Freude mehr, alles haben sie mir genommen. Meine Familie, mein Lachen, mein Leben. Nun bin ich Tag ein, Tag aus allein. In meiner grauen Welt, zu der niemand Eintritt hat. Ach, was soll ich sagen. Mein Kind, du verstehst ja doch nicht. Wenn das Herz einmal gebrochen, kann niemand es mehr richten."
„Aber es ist Weihnachten. Mein Vati sagt, das Weihnachtsfest bringt jedes Herz ein neues Leuchten. Er mag Weihnachten, genau wie ich. In jedem Jahr schmücken wir gemeinsam den Baum und oben kommt der große Stern hinauf. Vielleicht solltest du es versuchen, dann leuchtet auch dein Herz wieder."
Der Grießgram schaut das Mädchen an. Was sie da erzählt, es arbeitet in seinem Gedächtnis. Sie lächelt ihn an und da fällt es ihm ein.
„Ich muss jetzt gehen, sonst schimpft Mutti wieder. Ich soll doch nicht allein so weit. Sie hat Angst, ich könnt nicht mehr heimkommen", sie legt ihre kleine, kalte Hand auf seine und schaut ihm noch tiefer in die Augen, bis in seine Seele, „Fröhliche Weihnachten."
Dann dreht sie um und geht ihres Weges. Er starrt ihr hinterher, möchte rufen „So bleib doch bitte!" Aber plötzlich ist sie ganz verschwunden, ihre Abdrücke von Schnee bedeckt. Er sieht noch lange Zeit dahin, doch folgen wird nichts bringen. Er weiß nicht ganz, ob er nun verrückt ist, aber das Mädchen dort, war ganz gewiss nur eine. Sein Töchterchen, so klug und mit reinem Herzen. Sie verschwand an Weihnachten vor über dreißig Jahren im Alter von sechs Jahren. Er ist sich sicher, sie war es, wie von einem Engel geschickt, und sie sagt ihm; geh Vati, feiere Weihnachten. Das wird er tun, er tritt den Heimweg an. Das erste Mal seit einer Ewigkeit sieht man den Grießgram mit einem Lächeln und einer Träne, die seine Wange hinabläuft.
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der Adventskalender 2023
Short Story24 kurze Geschichten über die Weihnachtszeit. Ob Märchen, Gedicht oder Alltagssituation, von allem ist etwas dabei. Ein kleiner Einklang in die Weihnachtszeit- und Adventszeit.