Türchen 21: einsame Weihnachten

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Es gab mal Zeiten, da war Weihnachten mein liebstes Fest. Noch vor meinem Geburtstag. Ich liebte die Atmosphäre, das Drumherum. Ich bin gerne auf Weihnachtsmärkte gegangen, habe mich mit Süßigkeiten vollgefuttert und mir ewig Gedanken darüber gemacht, was auf meinem Wunschzettel stehen soll.

All das ist schon längst vorbei. Seltsam, wenn ein Mittzwanziger sowas denkt. Es auch noch so meint. Es ist das sechste Weihnachten, was ich ohne meine Familie verbringe. Der einzige, der bei mir ist, ist mein Hund Lou. Was Weihnachten jetzt für mich bedeutet? Eine depressive Episode. So war es die letzten Jahre üblich. In diesem scheint es zumindest „nur" eine Verstimmung zu sein. Ich habe es zum ersten Mal wieder geschafft, mein Haus weihnachtlich aussehen zu lassen. Die Jahre zuvor bin ich wenn überhaupt über eine Lichterkette hinaus gekommen. Diesmal steht sogar ein kleiner Baum im Wohnzimmer. Ihn aufzubauen und zu schmücken, hat mich Stunden gekostet. Ihn zu betrachten, zieht mich runter.

Während überall in den Häusern die Familien gemeinsam sitzen und feiern oder verreist sind, gehe ich Lou durch die Kälte spazieren. Wir haben selten Schnee auf der Insel, auf der ich lebe. Die Nordsee hat es nicht so damit. Doch in diesem Jahr ist es anders. Vielleicht sollte ich es als Zeichen deuten, dass es Zeit für Veränderungen ist. Aber an sowas glaube ich nicht. Statt Weihnachtsmusik zu hören, lausche ich dem Rauschen der Wellen. Weihnachten am Strand unter grauem Himmel zu verbringen, ist meine Tradition geworden. Seit ich den Hund habe, schaffe ich es zumindest, trotz der Depressionen aufzustehen. Er kann ja nichts dafür und ist wie eine Therapie für mich. Fröhlich läuft er durch den Sand und traut sich manchmal an das Wasser heran, doch es ist viel zu kalt. Ich beobachte ihn dabei und kann zumindest für den Moment vergessen. Später aber wird mich die Realität wieder einholen und das schwarze Loch der Leere wird wieder meins sein.

Viele meinen ja, diese Einsamkeit beträfe nur ältere Mitmenschen. Seht mich an, hier an diesem Strand. Ich bin 24 Jahre alt und habe bis auf Lou niemanden. Zumindest an Weihnachten darf ich mal ein bisschen in Selbstmitleid versinken. Was würde ich dafür tun, noch einmal eine Bescherung unter dem großen Weihnachtsbaum im Wohnzimmer zu erleben. Noch einmal diese Freude spüren, wenn man das erste Geschenk aufmacht. Noch einmal das grandiose Weihnachtsessen meines Vaters essen. Als ich noch klein war und meine Eltern noch nicht getrennt, da wollte meine Mutter immer helfen. Nur leider liegt ihr Können im Kochen auf dem Level von Doris Schneider und er hat es ihr verboten.

Der Wind zieht durch meine grün gefärbten Haare. Lous Fell ist völlig zerzaust. Zeit, nach Hause zu gehen. Eigentlich dachte ich immer, diese Insel und das Leben hier sind mein zu Hause. Aber ich habe eines gelernt, zu Hause ist nicht nur ein Ort, sondern auch Menschen. Meine Familie.

In der Ecke meines Wohnzimmers leuchtet der kleine künstliche Weihnachtsbaum. Lous Weihnachtsgeschenk liegt darunter, ein neues Spielzeug. Ich liege auf der Couch und habe nicht mal den Anreiz, mir etwas zu essen zu machen. Am liebsten würde ich ins Bett gehen, aber wenigstens in diesem Jahr möchte ich gegen meine Schatten ankämpfen. Lou schaut mich mit großen Augen an, er liegt mit dem Kopf auf meinen Beinen. Ich gebe nach, weiß genau, was er will. Sein tolles neues Spielzeug. Noch verpackt halte ich es ihm unter die Nase, er schnuppert an dem Geschenkpapier. Ich packe es für ihn aus, damit er das neue Stück noch nicht direkt zerstört und lege ihm das Faultier hin. Er begutachtet es und beschließt, dass er es toll findet, ehe er anfängt, darauf zu kauen. Mal sehen, wie lange es hält.

Auf der Terrasse ist es ebenso kalt, wie vorhin am Strand. Ich setze mich auf das Outdoor-Sofa und zünde mir eine Zigarette an. Das ist also, das erste bessere Weihnachten, was ich mir für dieses Jahr vorgenommen habe. Rauchend auf der Terrasse sitzen, während die Kälte durch meinen Körper zieht und der Wind um meine Nase streift. Man kann die Einsamkeit nicht allein bekämpfen. Ich schaue in den Himmel und würde am liebsten an so etwas, wie ein Wunder glauben. Ich würde alles tun, damit ein Wunder geschieht und ich im nächsten Jahr wieder glücklich unter meinem Weihnachtsbaum sitzen kann. Wie früher. Ich würde es mir so sehr wünschen. Mir kommen die Tränen und sie zu unterdrücken, versuche ich gar nicht erst. Gefühle sind da, um sie zuzulassen.

Fröhliche Weihnachten, oder so ähnlich. 

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