Fadenkreuz

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Akihito lag jetzt schon wieder eine ganze Weile in seinem Versteck und suchte sozusagen die Nadel im Heuhaufen.
Er musste zugeben ... der andere war wirklich gut. Nicht nur, dass er es geschafft hatte, dem anderen Killern zu einkommen. Ja sicher, es gab unzählige Möglichkeiten, sich zu verstecken, und als Sniper hatte er enorme Vorteile, aber unter den anderen gab es schließlich auch mehr als genug Attentäter, die zum Scharfschützengewehr griffen, um ihr Ziel zu eliminieren. Doch Aki musste feststellen, dass sein Gegner wohl einigen zuvorkam und die ‚Cleaner', das Aufräumteam nun mehr als genug Arbeit hatte, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Er hatte es auch geschafft, den jungen Japaner aufzuspüren und ihn auf 3000m fast zu treffen. Was bedeutete ... er hatte, was Können und Präzision anging, einen ebenbürtigen Gegner. Allerdings konnte der Andere einfach nicht mehr lange durchhalten. Dieser musste in den drei Stunden einfach zu oft seinen Standort wechseln und durch die Gegend hetzen. Was ihm mittlerweile ziemlich zu schaffen machen dürfte und hoffentlich dazu führte, dass er einen Fehler machte. Das letzte Gebäude, von dem aus dieser geschossen hatte, war ein Restaurant in etwa 2500m von seinem jetzigen Aufenthaltsort gewesen. Akihito hatte nicht lange gebraucht, um hierher zu kommen und das Gewehr zu justieren. Was bedeutete, der andere Sniper hatte nicht viel Zeit gehabt sich ebenfalls ein neues Versteck zu suchen. Und wenn Aki an den ausgelaugten Zustand dachte, in dem dieser sich befinden musste, war es sehr wahrscheinlich dass er sich nicht weit weg bewegt hatte.

Akihito betrachtete die Gebäude, die sich ca. 500 bis 1000 Meter um das Restaurant befanden. Biss sich auf die Unterlippe und zog die Augenbrauen zusammen. Was würde er an der Stelle seines Gegners tun? Der junge Killer drehte den Lauf des Gewehres weiter nach rechts. Richtete ihn auf ein hohes Gebäude etwa 900 m vom Restaurant entfernt. Er würde an seiner Stelle versuchen, ein höheres Gebäude so schnell wie möglich zu finden und mehr Abstand zwischen sie bringen, um eine neue Gelegenheit für einen Schuss zu bekommen. Da der andere bestimmt versuchen würde, den Abstand zu verringern, anstatt ihn zu vergrößern. Und da keiner wissen konnte, wie gut der andere letztlich war, würde er einfach hoffen, besser zu sein als sein Gegner. Aki betrachtete das Hochhaus im Fadenkreuz, welches er an der Stelle seines Gegners auswählen würde um auf die nächste Gelegenheit zu warten. Dummerweise war es höher, als das Haus, in dem er im Moment auf der Lauer lag, also musste er ebenfalls noch höher hinauf. Auf dem Weg hierher hatte er ein Hochhaus gesehen, dass einige hundert Meter hinter diesem Gebäude lag. Vorhin hatte er sich gegen dieses entschieden, da es ihn zu viel Zeit gekostet hätte, um es vom Idu Ma Tau Wai Hotel aus zu erreichen. Doch von hier aus wäre das nun kein Problem mehr. Er packte erneut seine Sachen zusammen und machte sich auf den Weg. So langsam merkte auch er die Stunden und viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Auf dem Weg zum höchsten erreichbaren Punkt des Hauses konnte er es nicht verhindern darüber nachzudenken, wer sein Gegner wohl war und aus welchem Grund? Doch es war gut möglich, dass er die Antworten auf diese Fragen nie bekommen würde. Er atmete tief durch und verdrängte die störenden Gedanken schnell wieder. Er durfte sich keine Ablenkung erlauben. Sein Herz musste so ruhig wie möglich schlagen. Er war in der Lage seine Atmung soweit zu verlangsamen, dass er zwischen zwei Herzschlägen abdrücken konnte. Anders war es nicht möglich, den Körper so ruhig zu halten, dass man auf solche Entfernungen jemanden treffen und töten konnte. Doch dazu durfte sich sein Gehirn keinen aufwühlenden Fragen hingeben. Und eigentlich war es auch vollkommen egal. Nur das Ergebnis war wichtig! Dazu legte er sich nun mit dem Bauch auf den Boden. Zog hoffentlich endlich zum letzten Mal für heute das Gewehr aus der Tasche und richtete die McMillan TAC-50 auf dem dazugehörigen Stativ aus und stellte sie erst einmal grob ein. Der junge Killer schloss kurz die Augen, um sich zu beruhigen. Dann blickte er wieder durch dass ihm so vertraute Fadenkreuz, welches ihm so häufig Alpträume bescherte. Fühlte die Waffe in seiner Hand. Sie war bereits seit so langer Zeit ein Teil von ihm und funktionierte wie ein verlängerter tödlicher Arm.
Wie hatte er nur denken können, dass ein normales Leben für ihn in Frage käme. Aber wenn er wirklich ehrlich zu sich war. Wollte er das überhaupt? Selbst wenn er nur an der Seite Asamis blieb, wäre sein Leben nicht normal. Der Geliebte eines Mafioso - oder eigentlich sogar von zweien. Von den Menschen um sich herum mal abgesehen. Nein ... ein langweiliges normales Leben würde für ihn wohl nicht wirklich in Frage kommen. Außerdem akzeptierten die zwei Männer ihn auch noch so, wie er war. Mit allen Ecken und Kanten. So wie er ihre. Was wollte er mehr.
Aki lächelte kaum merklich und suchte das Gebäude ab, auf dem er den gegnerischen Sniper auf dem Dach vermutete. Das Hochhaus befand sich fast 4000m entfernt. Er ließ das Fadenkreuz suchend über das Dach wandern.
Und dann sah er ihn! Den Sniper-. Zumindest ein kleines Stückchen seines hinter einer Mauer versteckten Körpers und den Lauf der Waffe. Akihito stellte das Fernrohr auf das Ziel ein und verstellte das Okular eine halbe Umdrehung gegen den Uhrzeigersinn, damit er kurz vor seinem Ziel die Luftspiegelung sehen konnte. Das Flimmern, die aufsteigenden Wellen, wie man sie im Sommer auf einer heißen Straße wahrnehmen konnte. Es war zum Glück ein sehr klarer Tag und die Spiegelung damit deutlich zu sehen.
Deutlich konnte er sehen, wie die Wellen von rechts kamen, was bedeutete, dass der Wind aus Richtung ein, zwei, drei, vier oder fünf Uhr kam. Langsam schwenkte er sein Zielfernrohr deshalb nach rechts, bis die Luftspiegelung anfing zu brodeln. Was bedeutete, dass sein Fernrohr in die Richtung zeigte, aus der der Wind kam. Die Wellen der Spiegelung waren jedoch sehr flach, vibrierten nur etwas. Bedeutete starker Wind. Außerdem waren die Wellen ziemlich dick, was wiederum eine hohe Luftfeuchtigkeit bedeutete. Bei einer hohen Luftfeuchtigkeit steigt die Luftdichte, das würde die Kugel langsamer werden lassen und den Treffpunkt nach unten verlagern. Er musste also das Gewehr noch etwas anheben, um das Wetter etwas auszugleichen.
Als er sich absolut sicher war alles perfekt eingestellt zu haben - drückte er ab. Über sechs Stunden suche. Ein Schuss. Ein Treffer. Hoffentlich-.
Der Rückstoß sorgte dafür, dass Akihito das Gewehr verriss und so schnell wie möglich erneut die Stelle finden musste. Ohne Beobachter war es leider nicht möglich sofort festzustellen, ob es ein Treffer war oder nicht. Doch als er die Stelle Sekunden später wiedergefunden hatte, atmete er erleichtert auf. Da war Blut. Er hatte ihn auf jeden Fall erwischt ... und eine 14 Zentimeter lange Patrone richtete einen gewaltigen Schaden an. Selbst wenn er den Mann nicht sofort tödlich getroffen hatte, war seine Überlebenschance eher gering. Er stand auf und ließ seinen Blick umherwandern. Sah hinauf in den Himmel und schloss die Augen. Erleichterung machte sich in ihm breit. Damit war das Versteckspiel zu Ende. Jetzt musste er nur noch zu dem anderen Gebäude. Er verstaute ein letztes Mal für heute, alles erneut in der großen schwarzen Tragetasche und zog sein Handy aus der Manteltasche, rief den Transportservice und orderte einen Wagen.
Wenig später trat Aki durch die Eingangstüre des Gebäudes und fuhr mit dem Fahrstuhl in die letzte Etage. Von dort aus machte er sich zu Fuß auf den Weg zur Plattform. Vor der letzten Tür, die als einzige noch zwischen ihm und dem Mörder Owens stand, zog er eine der beiden geladenen Pistolen aus seinem Schulterhalfter und entsicherte sie. Öffnete die schwere Sicherheitstüre und schob sich langsam nach vorne. Sah sich genau um, ohne erst einmal seine sichere Position zu verlassen. Auf jede Situation gefasst. Schließlich wusste er ja nicht, in welchem Zustand sich der gegnerische Sniper befand. Allerdings hatte er auf dem Weg nach oben keine Blutspur entdecken können. Bei der mit Sicherheit schweren Verletzung wäre diese allerdings nicht vermeidbar gewesen. Konnte also nur bedeuten, dass sich Owen's Mörder noch auf dem Dach befand. Vorsichtig trat er ein paar Schritte nach vorne, bewegte sich dann langsam immer weiter vorwärts und sah sich genauer um. Als er sich schließlich an einer der Wände entlang bewegte und um die Ecke blickte, sah er den Sniper zusammengesunken an der gegenüberliegenden Wand sitzen. Ihm lag das Kinn auf der Brust und Blut sammelte sich neben ihm, lief an ihm herunter. Sogar das Gewehr, welches neben ihm lag, war bereits von dem Blut umschlossen. Akihito hatte ihn anscheinend ziemlich nah am Hals getroffen. In Anbetracht des guten Verstecks ein annehmbares Ergebnis.
Immer noch vorsichtig näherte er sich ihm, denn selbst ein verletzter Killer war immer noch gefährlich und je näher Aki dem Mann kam, desto sicherer war er sich, dass dieser noch lebte. Langsam hob und senkte sich der Brustkorb, doch unternahm er im Moment zumindest, keinen erneuten Versuch Akihito zu verletzen. Etwa drei Armlängen vor dem anderen blieb er stehen und ging nach kurzem Überlegen in die Hocke. Musterte sein Gegenüber. Ein etwas älterer Mann. Nicht unattraktiv. Aber auch nicht ansatzweise mit seinen Mafiosi zu vergleichen, mit keinem von ihnen. Er war eher Durchschnitt. Aber das waren wohl die meisten Killer und Attentäter. Noch während Akihito den Mann betrachtete, hob dieser plötzlich etwas seinen Kopf an und sah dem Sniper in die blauen Augen. Doch schon diese einfache kleine Bewegung schien ihn gewaltig viel Kraft zu kosten. Der Blutverlust schien seinen Tribut zu fordern und Akihito konnte außer dieser einfachen Kopfbewegung keine Weiteren erkennen. Dazu schien er schlicht und ergreifend nicht mehr in der Lage zu sein.
„Herzlichen Glückwunsch Akihito ...", kam es etwas angestrengt von seinem Gegner, „Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du es wirklich mit mir aufnehmen könntest. Du siehst deinem Vater in der Tat wirklich sehr ähnlich."
„Ich sehe meinem Vater eigentlich überhaupt nicht ähnlich ... wer sind sie verdammt noch mal und warum das Ganze!?"
„Ich kenne deinen Vater ... und du siehst ihm ähnlich. Ich soll dir von meinem Boss Glückwünsche zu deinem Sieg ausrichten. Es hat ihn sehr gefreut, dass ich den richtigen Jungen gefunden habe. Doch hat auch er nicht damit gerechnet, dass ich gegen dich verlieren könnte. Das hat seine Pläne mit Sicherheit etwas durcheinandergebracht."
„Verdammt ... wer sind sie und von welchem Boss sprechen sie!? Wovon reden sie überhaupt!?"
Doch bevor der Sniper Antworten auf diese Fragen geben konnte, schlossen sich die braunen Augen, und der Mann kippte zur Seite. Akihito fühlte mit zwei Fingern am Hals nach einem Puls ... konnte allerdings keinen mehr finden. Er war tot und der junge Japaner hätte am liebsten frustriert aufgeschrien. Das Ganze eben hatte mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet.
Akihito seufzte, stellte die Tragetasche, welche er über seiner Schulter hängen hatte, neben sich auf den Boden und zog den Reißverschluss auf. Zusätzlich zu der Waffe, Patronen, Goldmünzen und dem Wasser ... hatte er auch ein weißes Blatt Papier eingepackt. Dieses nahm er nun heraus und betrachtete es. Nach weiteren Sekunden, in denen sonst nichts weiter passiert war, fing er an, das Papier geschickt zu falten. Immer noch in Gedanken drehte er am Schluss den kleinen weißen Stern in den Fingern und legte ihn schließlich auf das Gewehr des Toten. Stand auf, drehte sich um und ging ohne sich noch mal um zu blicken auf die Tür zu, durch die er gekommen war.

Ziemlich erschöpft trat er durch die gläserne Aufzugstür und drückte den Knopf, der den Fahrstuhl dazu veranlassen würde ihn bis ganz nach oben zu bringen. Wie sehr freute er sich jetzt auf ein heißes Bad und ein bequemes Sofa ... und seine zwei Lover. Akihito lächelte leicht. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sich Chen und Asami gar nicht so schlecht verstanden. Der Aufzug hielt und die Türen glitten auf. Er atmete noch mal tief durch, dann trat er in den Flur und lief auf die Wohnzimmertür zu, öffnete sie und trat ein. Es dauerte nur Sekunden, bis er in eine feste Umarmung gezogen wurde, und sich unnachgiebige Lippen auf die seinen legten. Asami strich ihm eine Strähne aus dem Gesicht und sah ihm tief in die Augen. Dann lagen diese wundervollen Lippen wieder auf den seinen, zogen ihn erneut in einen besitzergreifenden Kuss. Er stöhnte leise an dem Mund das Yakuzas und lehnte sich erschöpft aber so unglaublich glücklich an die breite Brust des älteren Japaners. Genoss die Wärme, die von seinem Geliebten ausging. Er hatte es geschafft. Er lebte und war wieder da wo er hingehört.

Kein Entkommen - Band 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt