Kapitel 10

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Es war noch immer unerträglich heiß. Ich hielt es in der Hitze kaum aus.

Wieso hatte ich vor meiner dramatischen Flucht nicht auch an Proviant gedacht? Ich hatte das Gefühl, bereits seit Stunden auf dem Weg zum Lavendelfeld. Da ich auf den Bus zu lange hätte warten müssen, hatte ich beschlossen einfach zu Fuß zu gehen, doch der Weg war mir damals, zusammen mit Layla, viel kürzer vorgekommen. Ich hoffte darauf sie anzutreffen, ich wüsste nicht, was ich sonst auf dem Feld tun sollte.

Ich hatte nur nicht zuhause sein wollen. Der Feldweg lag vor mir und die Steinchen knirschten unter meinen Schuhsohlen. Die Stille umgab mich. Dieses Gefühl war einfach berauschend. Ich sah von meinen Füßen auf und erstarrte. Layla stand vor dem Kreuz, den Rücken zu mir gewandt. Ich konnte ihre Haltung nicht deuten, ob es daran lag, dass ich zu weit weg war oder einfach nur daran, dass meine Menschenkenntnisse an der Stelle versagten – Ich wusste es nicht.

Mein erster Gedanke war, ich solle zu ihr laufen. Ich wollte zu ihr gelangen, doch ich blieb stehen. Ich bewegte mich nicht einen einzigen Millimeter. Was war Laylas Geheimnis? Was verheimlichte sie vor der Welt? »Wenn du weiterhin hier so blöd rumstehst, wirst du es nie erfahren.«, giftete ich mich selbst an. Mit einem Seufzen sah ich wieder auf meine Schuhe und machte den ersten Schritt in das Lavendelfeld rein. Sie hatte mich noch nicht bemerkt. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen.

Desto näher ich ihr kam, desto unsicherer wurde ich. Sie stand leicht nach vorne gebückt. Ihr Blick war gesenkt. Layla war immer ein aufmerksamer Mensch gewesen, wieso hatte sie mich dann noch nicht bemerkt? Layla achtete auf das Geschehen um sie herum. Sie liebte diesen Ort, wieso hörte sie mich nicht.

Mir fiel erst auf, was ich so seltsam an ihr fand, als ich kaum fünf Meter von ihr entfernt stand. Layla hatte jedes Mal einen Pullover getragen, egal wie heiß es war, sie trug Pullover oder langärmlige Shirts. Ich hatte noch nie ihre nackten Arme gesehen, doch es war ein grotesker Anblick. »Layla?«

Das blonde Mädchen wirbelte erschrocken herum, dabei glitt ihr ein Gegenstand aus den Fingern und viel zu Boden. Es landete zwischen den Lavendelsträuchern und somit wurde mir die Sicht darauf versperrt. Ich blieb wie angewurzelt an Ort und Stelle. »Was suchst du hier?«, giftete sie mich an. Sie bückte sich nicht nach dem verlorenen Gegenstand, sie machte aber genauso wenige Anstalten, die Blutung an ihrem Arm zu stoppen.

»Blutest du?« Ich runzelte die Stirn, verstand nicht so richtig was hier grade ablief.

Layla sah an sich herunter und schob ihre linke Hand über die Wunde. »Du antwortest mir nicht.«, entgegnete sie wütend.

»Du mir allerdings auch nicht.«, erwiderte ich und kam einen Schritt näher. Sie wollte zurück weichen, stieß dabei jedoch mit der Hüfte gegen das Kreuz. »Was tust du da?«

Sie antwortete nicht, sondern sah mich einfach schweigend an, die Hand noch immer auf ihren rechten Arm gepresst. Mein Herz raste, sie wirkte wie ein scheues Tier, welches bei einer falschen Bewegung einfach flüchten würde. Ich ergriff die Initiative. »Ich musste von zu Hause weg.«

»Ich auch.« Ihre Stimme zitterte.

»Wieso hast du nie mit mir gesprochen?«, fragte ich sie. Sie zuckte zusammen und griff nach dem morschen Holz des Kreuzes. Ihre Hand krallte sich daran, mit der anderen hielt sie noch immer die Wunde fest.

»Du würdest es nicht verstehen.«

»Du hast dir nicht die Mühe gemacht, es zu versuchen.« Ich biss die Zähne zusammen und starrte sie abwartend an. Layla sah zu Boden. Ich wusste nicht ob sie weinte. Sie hatte geweint, bevor ich gekommen war. Ihre Schminke war verschmiert. Aber war sie jemand, der einfach aufhörte, sobald andere um sie herum waren oder fiel es Layla schwer, sich zusammen zu reißen? Ich wusste so wenig über das Mädchen, mit dem ich jeden Tag verbringen wollte.

Als Layla nicht weiter sprach, wagte ich mich an sie heran. Sie sah weiterhin zu Boden, ihre Schultern bebten leicht und als ich meine Hand ausstreckte, um sie am Oberarm zu berühren zuckte sie zusammen. Schon fast panisch sah sie zu mir hoch, in ihren Augen standen Tränen und sie presste ihre Hand noch immer gegen die Wunde. Ich löste mich von ihrem Blick und suchte den Boden nach dem verlorenen Gegenstand ab. Als ich das Messer erblickte, stockte mir der Atem.

»Willst du eine Umarmung?«, fragte ich sie unbeholfen und sah wieder in ihr Gesicht. Ich wollte das Messer nicht sehen, ich wollte die Wunde an ihrem Arm vergessen.

Layla nahm tief Luft, löste die Hand von ihrem rechten Arm und starrte einen Moment unbeholfen auf die Austrittswunde. Ich wollte nicht hinsehen, doch ich folgte ihrem Blick und betrachtete den Schnitt. Er war nicht sonderlich lang, bluten tat er auch kaum noch. Es war einer dieser Momente, in denen man realisierte, dass das Leben dazu da war, um schrecklich zu sein. »Ich habe Berührungsängste.«, murmelte sie so leise, dass ich es kaum verstand.

Mein Hals fühlte sich unheimlich trocken als ich antwortete: »So wie beim Lesen.« Sie sah mich unsicher an. Ich wurde den Vergleich nicht los, sie sei wie ein scheues Tier. Bei jedem meiner Worte erwartete ich schon fast, sie würde einfach verschwinden. »Ich fasse dich nicht an.«, versicherte ich ihr.

Sie kam einen Schritt näher und ich hielt gebannt die Luft an. »Wie beim Lesen?«, fragte sie leise. Ihre Augen sahen aus wie aus Glas, die Tränen schimmerten noch in ihnen und ich sah mich selbst in ihnen. Langsam nickte ich.

»Wie beim Lesen.«, versicherte ich ihr ein weiteres Mal und nun war sie diejenige die nickte. Langsam durchtrennte sie die Lücke zwischen uns, trat ganz nah heran und lehnte ihren Kopf an meine Schulter. Sie atmete zitternd ein und aus, dann hob sie die verletzte Hand und schlang sie um meinen Nacken wo sie ihre Finger mit ihrer linken Hand verschränkte. Einen Moment blieben wir so stehen. Meine Arme baumelten nutzlos an meinen Seiten hinab während sie zitternd an meine Kehle atmete.

»Wenn du mir sagen willst, was bei dir los ist...« Ich suchte nach einem geeigneten Ende für meinen Satz. »... Dann bin ich hier, immer wenn du mich brauchst.«

Es dauerte eine ganze Weile bis sie etwas darauf sagte und als sie schließlich sprach, war es nicht das, was ich erwartet hatte: »Schließt du mich in eine Umarmung?« Sie sprach noch leiser als zuvor, doch ich nickte langsam, wusste allerdings nicht recht, ob ich die Arme wirklich heben wollte. Überhaupt heben konnte.

Layla zuckte kurz zusammen als meine Finger ihren Rücken streiften eher ich meine Arme um sie schloss. Das war mehr als eine Umarmung zur Begrüßung. Layla war mir so nah. Ich wusste nicht einmal, wessen Herzschlag ich spürte. War es ihrer oder doch meiner?

»Hast du es davor schon mal getan?«, fragte ich und betrachtete ihre schmalen Schultern. Sie hatte Narben an ihnen, aber ich wollte mir nicht irgendetwas dazu reimen.

»Es war nicht mein erstes Mal, also ja.«, antwortete sie leise und ihr Griff in meinem Nacken verstärkte sich.

»Wieso tust du es, Layla?« Sie löste sich von mir und ich bereute meine Frage sofort. Layla strich sich über die Arme und knetete ihre Finger.

»Weißt du, Simon, irgendwann, wenn dir sehr viel – und ich meine verdammt viel – Scheiße angetan wird, kannst du nicht mehr weinen.« Sie machte eine Pause, biss sich auf die Unterlippe und sah mir direkt in die Augen. »Und wenn die Tränen aufhören zu fließen, muss etwas anderes sie ersetzen.«

»Blut?«, fragte ich ungläubig und widerstand dem Drang ihr wieder näher zu kommen.

»Ja, Blut.« Ihre Stimme verlor die eben gewonnene Stärke wieder und sie seufzte. »Wenn die Tränen versagen, muss das Blut für sie einspringen. An sonst geht man von innen kaputt. Man stirbt einfach und niemand merkt es, nicht einmal man selbst bemerkt, dass man eigentlich gar nicht mehr lebt.«

»Bist du tot, Layla?«

»Ich wünschte ich wäre es.«

Wo der Lavendel blühtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt