Kapitel 6

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»Mann, Simon, bist du überhaupt anwesend?«, fragte mich Paul und gab mir einen Stoß an die Schulter.

   »Sorry, ich bin etwas abwesend.«, murmelte ich und stürzte meine Ellenbogen auf meinen Knien ab. Mein Gesicht vergrub ich für einen Moment in meinen Händen. Wir brüteten seit gefühlten Stunden über den Aufgaben. Ich sah auf die Uhr, es waren grade mal vierzig Minuten vergangen. Mit einem Seufzen sah ich wieder auf die Unterlagen. Es war erstaunlich, dass eine einzige Person mein Leben so drastisch verändern konnte.

   Seit dem ersten Treffen mit Layla Westhold, schien es, als hätte sich mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Ich hatte angefangen selbst ohne Layla das Feld Lavendelfeld zu besuchen. Ich verbrachte die Zeit dort um Hausaufgaben zu machen, mein Buch zu lesen oder einfach nur in dem Dreck zu liegen und vor mich hin zu sinnieren.

   Nicht oft sah ich Layla einfach so zufällig. Zweimal haben wir beide uns zufällig hier getroffen, doch jedes Mal wenn wir uns trafen, sah sie eher verwirrt oder geschockt aus als wirklich glücklich. Auf den Platz voller Ruhe und Frieden. Nur das Kreuz beunruhigte mich. Immer wieder schweiften meine Gedanken zurück zu dem Holzgestell.

   »Kumpel, du träumst wieder.«, bemerkte Paul und studierte mein Gesicht. Manchmal hasste ich ihn dafür, dass er sich so sehr mit Menschen auskannte und dass er jedes Mal alles wissen wollte.

   »Tut mir leid, Paul, es tut mir wirklich leid.«, stammelte ich und versuchte mich auf die Papiere vor mir zu konzentrieren.

   »Ich will nicht fragen.«

   »Du tust es aber trotzdem.«, erwiderte ich. »Auf deine eigene Art und Weise, tust du es trotzdem.«

   »Tut mir leid, Mann.« Einen Moment schwiegen wir beide. Der Klassenraum wirkte gespenstig leer. »Ich habe dich nur noch nie so erlebt, naja, bis auf – «

   »Nein!«, unterbrach ich ihn hastig. Paul sah betreten auf seine Hände und stammelte einige Entschuldigungen vor sich hin. Ich sah zu der Tür am anderen Ende des Klassenraumes und wendete den Blick dann wieder auf die Papiere vor mir. »Es betrifft das Mädchen. Das Blonde aus dem Bus.«

   Er lachte in sich hinein und schüttelte etwas ungläubig den Kopf. »Wenn jemals jemand mit mir wetten gewollt hätte, hätte ich alles darauf gesetzt, dass du der letzte bist der sich von der weiblichen Spezies beirren lässt.« Es war nicht böse gemeint, Paul grinste inzwischen breit und hatte eine Augenbraue hoch gezogen. Er wollte unbedingt mehr erfahren.

   »Sie ist anders.«

   »Ich glaube, so etwas wird in jedem zweiten Film gesagt.«

   »Vielleicht ja, weil sie wirklich immer anders sind?«

   »Ich glaube, an die Wissenschaft, keiner kann gleich mit jemanden anderem sein. Nicht einmal Zwillinge. Wir sind alle Individuen gefangen in der Gesellschaft des einundzwanzigsten Jahrhunderts.«

   »Du bist der schrägste Kerl auf Erden, dass ist dir klar oder?«, fragte ich ihn und grinste dabei. Paul lehnte sich zurück und verschränkte einen Moment die Arme vor der Brust eher er sie gleich darauf wieder löste um sich am Hinterkopf zu kratzen.

   »Vermutlich wollen die Frauen deswegen was von dir und deiner Literatur statt von mir.«

   »Ich glaube, Tolkien ist nicht wirklich ein Frauenmagnet.«

   »Dein Blondinchen hast du jedenfalls von dir überzeugt und das wohl kaum wegen deines Aussehens.«

   »Deine Ehrlichkeit verletzt mich.«, behauptete ich und griff mir theatralisch an die Brust. Wir saßen lange nicht mehr unbeschwert da. In letzter Zeit waren immer wieder die Schule, die Zukunft und die Angst wegen dem Versagen dazwischen gekommen. Der Moment erinnerte mich daran, wieso Paul eigentlich mein bester Freund war.

   »Du weißt, dass ich lüge.«, erwiderte Paul mit einem Grinsen und räumte die Blätter in seinen Rucksack.

   »Was machst du?«

   »Ich gebe dir die Möglichkeit deine Freundin zu besuchen.«

   »Sie ist nicht meine Freundin.«

   »Das solltest du dringend ändern, mein Freund.«

Und so kam es, dass ich an diesem Mittwochnachmittag Paul alleine in der Schule mit einem Haufen Chemie-Kram alleine ließ um auf dem Feld auf Layla zu treffen. Falls sie überhaupt da sein würde.

   Wir hatten uns noch nie am Mittwochnachmittag getroffen, vermutlich saß sie lange in der Schule. Es hatte seit Tagen nicht mehr geregnet und auch heute sah der Himmel unheimlich klar aus. Nicht eine einzige Wolke war zusehen und die Sonne brannte so unerbittlich auf die Erde hinab, dass die Hitze kaum auszuhalten war. Der Sand unter meinen Füßen wirbelte mit jedem Tritt, den ich tat, auf. Ein wilder Hase schreckte auf und rannte in Richtung des Feldes davon. Die Welt sah auf diesem kleinen Weg und dem lila Feld so anders aus.

   Ein Hundebesitzer kam mir entgegen. Während das Mädchen ununterbrochen auf ihr Handy starrte, bellte der Hund freudig und wollte auf mich zu laufen. Die Leine, welche das Mädchen kaltherzig umklammert hielt, verhinderte sein Vorhaben und mit einem Keuchen trottete der Hund auf die Seite des Mädchens zurück. Ich sah den beiden einen Moment nach und fragte mich, ob sie überhaupt irgendetwas davon mitbekommen hatte.

   Sie schien das komplette Gegenteil von Layla zu sein. Layla hätte nie auch nur einen Blick auf ihr Handy geworfen, wobei ich mir nicht einmal sicher war, ob sie überhaupt eins besaß.

   Das Lavendelfeld war leer. Doch ich machte mir nichts daraus. Ich hatte die Schule verlassen während sie vermutlich noch Unterricht hatte. Ich würde einfach hier liegen bleiben und mich mit meinem Buch beschäftigen. Hobbit hatte ich inzwischen endlich zu Ende gebracht und nun blätterte ich abwesend in Stein der Weisen. Mir war nicht nach lesen zu mute. Ich konnte mich nicht auf Tolkiens Worte konzentrieren und für einen Moment wünschte ich mir ich hätte Der Pilot von Ann C. Crispin mitgenommen.

   »Immer wieder schön zu sehen, dass jemand noch Wert auf eine gute Lektüre legt.« Ich zuckte zusammen und sah erschrocken hinter mich. Mein Rücken lehnte an dem Kreuz und beinahe hätte ich wohl mein Auge an einem Nagel verloren. Layla lachte leise und setzte sich neben mich. Solange mein Rücken an dem Kreuz lehnte, konnte ich es nicht sehen.

   »Du hast mich erschrocken.«, bemerkte ich.

   »Ist mir auch schon aufgefallen.«, lachte Layla und nahm mir mein Buch aus den Händen.

   Dann viel mir auf, dass ich ihr Buch zerstört hatte. »Was für ein Buch hast du gelesen, als du das Notizbuch im Bus liegen gelassen hast?«

   »Ich will nicht, dass du es mir neu kaufst.«, erwiderte sie und reichte mir mein Buch wieder. »Bücher tragen zwei Geschichten in sich. Die geschriebene und die, die wir ihnen aufbringen. Der Schmutz auf dem Cover und an den Seiten wird mich immer daran erinnern wie und wann ich dich kennengelernt habe.«

   Ich sah sie lange an. Ihre braunen Augen glänzten im Sonnenlicht. »Du hast da was.« Ich wies mir selbst an die Stirn, etwas über der Augenbraue. Sie wendete den Blick ab und starrte zu den Blüten des Lavendels hinüber.

   »Nur bisschen verkacktes Makeup.«, erwiderte sie darauf und verbarg ihr Gesicht hinter ihren Haaren. Ich runzelte die Stirn. Mir war davor nie aufgefallen, dass sie sich großartig Schminkte.

   »Ich wusste gar nicht, dass blaugrün deine natürliche Hautfarbe ist.«, behauptete ich und meine eigene Stimme triefte vor Sarkasmus. Ich hatte mich noch nie so verbittert angehört.

   Sie blickte wieder in meine Richtung. »Die Geschichte ist zu peinlich um sie zu erzählen.«, entgegnete Layla und ich hatte das Gefühl, dass ihre Augen kälte ausstrahlten. Das Gespräch eskalierte in eine Richtung, die sie niemals einschlagen wollte.

   »Was liest du am liebsten?«, wechselte ich das Thema und ihr Gesichtsausdruck hellte sich etwas auf.

   Sie wisperte ein leises „Danke" und legte sich neben dem Kreuz ins Gras. Ich tat es ihr gleich, doch das Gefühl, dass ich unter dieser Erde liegen könnte überwältigte mich. Ich wollte aufstehen, laufen, irgendetwas tun, dass mir beweisen würde, ich sei noch am Leben.

   Doch ich blieb liegen, ihretwegen.

Wo der Lavendel blühtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt