Kapitel 16

2.5K 390 26
                                    

Inzwischen waren vier Tage vergangen. Es war Samstag und hin und wieder nieselte es draußen. Die Tage hatte ich damit verbracht mich mit Hausaufgaben abzulenken oder die „Harry Potter"– Filme zu sehen.

Ziemlich deprimierend wurde es dann, als ich die Aufgaben für die kommende Woche komplett fertig hatte und es auch keinen neunten Film zu Harry Potter gab und ich somit nichts mehr zu tun hatte. Das führte dann von einem zum anderen.

Ich packte also meine Schulsachen ein, griff nach meinem Handy und verlies mein Zimmer. Meine Eltern waren beide auf der Arbeit und in dem Haus war es ungewöhnlich still. Normalerweise würde ich diese Stille genießen, vielleicht Paul zu mir einladen. Einmal, als meine Eltern am ihrem zwanzigsten Hochzeitstag übers Wochenende verreist waren, hatten Paul und ich sogar ein wenig mit Bekannten gefeiert.

Ich mochte die Stille, die das Haus umgab, wenn niemand außer mir daheim war. Wobei nichts es mit der Stille des Feldes aufnehmen konnte. Während ich mir meine Jacke überstreifte und gleichzeitig versuchte in meine Schuhe zu schlüpfen, wählte ich Pauls Nummer. Über den Lautsprecher meines Handys ertönte dann ein Piepen. Mit aufgeschnürten Schuhen und dem Telefon in der Hand, ließ ich die Haustür hinter mir ins Schloss fallen und begann gemütlich in Richtung der Bushaltestelle zu spazieren.

»Simon?«, fragte mein bester Freund verdutzt. Inzwischen hatte ich den Lautsprecher wieder ausgeschaltet und hielt mir das Handy ans Ohr.

»Paul, kannst du mir Marthas Nummer geben?«, fragte ich ehe mich der Mut verlassen konnte.

»Willst du dich mit meinem Feind verbünden?«

Ich lachte freudlos. »Eigentlich glaube ich, dass sie mit Layla in eine Klasse geht, ich wollte sie nach der Adresse fragen.«

»Du warst nie da?« Ich rollte mit den Augen.

»Sie war theoretisch auch nur einmal bei mir.«, verteidigte ich mich ziemlich schlecht. Paul lachte und legte auf. Ich wusste, dass ich mich auf ihn verlassen konnte, also setzte ich meinen Weg Richtung Feld weiter fort und wartete darauf, dass mein bester Freund sich mit guten Nachrichten in Form einer Adresse wieder bei mir meldete.

Grade als ich in den Bus steigen wollte vibrierte mein Handy auf. Ich widerstand dem Drang direkt im Gang stehen zu bleiben und drauf zu sehen, da hinter mir noch mehrere Personen einsteigen wollten. So beherrscht wie nur möglich rutschte ich in einer freien Sitzreihe bis ans Fenster und zog mein Handy aus der Tasche.

Tut mir Leid, die dumme Kuh, glaubt mir kein Wort, ruf die Schnepfe selbst an.

Dahinter hatte er mir ein Kontakt geschickt mit dem Namen „Dumme Tusse". Meine Mutter behauptete ja immer, was sich neckt, das liebe sich. Ich konnte mir in keinem einzigen Universum vorstellen, dass Paul was mit Marsha am Laufen haben könnte. Ohne Länger Zeit zu verschwenden, wählte ich Marshas Nummer aus.

»Hallo?«

»Marsha!«

»Ich habe schon Paul gesagt, ich hab' euch nichts zu sagen.«

»Er behauptete, du würdest ihm nicht glauben.«

»Falls dir noch nicht aufgefallen ist: Er ist ein Idiot.«

»Marsha, es ist mir echt wichtig.«, drängte ich.

»Ich weiß nicht, ob die Angabe in der Liste richtig ist. Ihre Telefonnummer ist jedenfalls falsch.«

»Ich probier's.«

»Du bist echt hartnäckig.«, stellte sie fest, dann lachte sie. »Ist wohl gut so, jemand der sie einfach aufgibt, wäre nicht der richtige für jemand mit Laylas Persönlichkeit.« Ich sagte nichts darauf. »Du weißt doch die Hauptstraße, die durch das Dorf geht bei dem sie immer aussteigt?«

»Ja.«

»Sie wohnt dort am Ende der Straße, die genaue Adresse schicke ich dir als Textnachricht.« Mit diesen Worten legte sie einfach auf. Ich hatte nicht gewusst, wie direkt und kurzgebunden Marsha eigentlich war. Sie hielt allerdings ihr Wort und kurz nach unserem Telefonat vibrierte mein Handy erneut. Lächelnd sah ich auf die Adresse hinab und drückte auf das Stoppschild, als der Bus die Haltestelle erreichte, an der das Feld angrenzte. Marsha hatte mir den Weg zwar von einer anderen Bushaltestelle beschrieben, doch Layla war oft genug von hier aus zu Fuß gegangen.

Statt wie jedes Mal die Stille des Feldes zu genießen und mich in den Bann ziehen zu lassen, hastete ich förmlich den Weg entlang, vorbei an dem kniehohen Gewächs, durch das ich jedes Mal ging, um auf das Feld zu gelangen.

Es war fast ein Wunder, dass ich die Straße wirklich fand. Layla hatte mir gesagt, dass sie nicht nobel lebte, dass sie nicht so viel hatte wie ich, aber sie hatte verschwiegen, dass sie im Ghetto der Gegend wohnte.

Ich musterte die Hausnummern und setzte meinen Weg fort, bis ich endlich ihr Haus fand. In einem der Räume zur Straße brannte Licht, ich schluckte schwer, als ich die wenigen Treppen erklomm. Die ganze Szene die sich mir bot, erinnerte mich an Ghettos aus Filmen in denen vor allem Afroamerikaner aufwuchsen. Oder wie das aus dem Film 8 Mile.

Auf dem Klingelschild stand ich in verschlissener Schrift: Westhold. Meine Hand zitterte als ich an der Tür klopfte und nervös schluckte ich. Es dauerte einen Moment, dann wurde die Tür aufgezogen. Durch das Fliegengitter sah Layla mir mit ihren dunklen Augen entgegen.

»Simon?«, hauchte sie verwirrt.

Ich lächelte vorsichtig. »Hey.«

»Simon, was suchst du hier?«

»Ich habe mir Sorgen gemacht.«, gestand ich.

»Niemand macht sich Sorgen um mich.«, erwiderte sie darauf.

»Lässt du mich rein?« Sie zögerte, sah sich über die Schulter in das Innere des Hauses und zog das Fliegengitter schließlich auf. Ich betrat das Innere des Hauses, es roch nach Kartoffeln. Layla forderte mich auf ihr zu folgen.

»Tom?« Ich sah an ihr vorbei und erblickte einen Jungen, der kaum älter als zehn sein konnte. Er sah von seinem Teller auf und sah skeptisch zu uns hinüber.

»Ähm... Layla?«

»Behalt's für dich, Kleiner.« Layla lächelte ihrem Bruder zu der vorsichtig nickte. »Willst du mit uns Essen?« Ich brauchte einen Moment bis ich realisierte, dass die Frage an mich gerichtet war.

Unsicher sah ich zu Layla die mich in diesem Haus an einen eingesperrten Vogel erinnerte. Layla wollte frei sein, das war alles, was sie brauchte: Freiheit. Das war mir nun bewusst.

»Wenn es deiner Schwester nichts ausmacht.«, murmelte ich und sah zu dem blonden Mädchen. Ein Lächeln huschte über ihr ernstes Gesicht und sie strich sich eine Strähne hinters Ohr. Ich wünschte mir so sehr, es ebenfalls tun zu können.

Und sie zu küssen, ihre Lippen auf meinen zu spüren.

»Ich mache dir einen Teller fertig.«, wisperte sie, ich nickte bloß. Tom widmete sich wieder seinem Teller und ich folgte Layla brav zum Herd. Sie wirkte klein, kleiner als sie eigentlich war.

»Du musst wissen, Layla macht den besten Püree der Welt!«, verkündete Tom. »Und sie lächelt wunderschön.« Seine Worte brachten das Mädchen sogar zum Lachen.

»Ich stimme dir zu.« Ich sah von ihrem Bruder zu Layla hinab. Ihre braunen Augen ruhten auf meinem Gesicht und mich überkam das Gefühl, dass die Zeit stehen bleiben könnte und wir beide für immer in diesem Moment leben dürften. Ich wollte diesen Moment niemals vergessen.

Doch er verflog, wie alles andere im Leben auch. Zuerst wegen dem Essen, dann wegen etwas viel grausameren.


Wo der Lavendel blühtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt